Unterschrieben ist dieser Brief vom Leiter der Schadensabteilung, und ich reibe fassungslos über das eingeprägte Firmenemblem am Kopf des Bogens. Vorigen Herbst habe ich ein
Seminar über Versicherungsrecht belegt, und ich erinnere mich, wie sehr mich das ungeheuerliche Verhalten bestimmter Gesellschaften in Fällen böswilliger Leistungsverweigerung schockiert hat. Unser Seminarleiter war ein Gastdozent, ein Kommunist, der Versicherungsgesellschaften und überhaupt alle großen Firmen haßte und sich eingehend mit Fällen beschäftigt hatte, in denen die legitimen Ansprüche von Versicherten völlig ungerechtfertigt zurückgewiesen worden waren. Er war überzeugt, daß es in diesem Land Zehntausende von solchen Verstößen wider Treu und Glauben gibt, die nie vor Gericht gebracht wurden. Er hatte Bücher über böswillige Leistungsverweigerung und die in diesem Zusammenhang geführten Prozesse geschrieben und sogar Statistiken vorgelegt, um seine Ansicht zu belegen, daß viele Leute die Zurückweisung ihrer Ansprüche einfach hinnehmen, ohne der Sache auf den Grund zu gehen.
Ich lese den Brief abermals mit dem Finger auf dem eleganten Emblem von Great Benefit Life am Kopf des Blattes.
«Und Sie haben nie eine Prämienzahlung versäumt?«
«Nein, Sir. Keine einzige.«
«Ich muß die Unterlagen über Donny Rays Krankheit sehen.«
«Ich habe die meisten davon zu Hause. In letzter Zeit ist er nicht oft beim Arzt gewesen. Wir können es uns einfach nicht leisten.«
«Wissen Sie das genaue Datum, an dem die Leukämie diagnostiziert wurde?«
«Nein, aber es war im August vorigen Jahres. Er war für den ersten Abschnitt der Chemotherapie im Krankenhaus. Dann teilten diese Gauner uns mit, daß sie die Kosten der Behandlung nicht übernehmen würden, also hat das Krankenhaus uns vor die Tür gesetzt. Sagten, sie könnten es sich nicht leisten, uns eine Transplantation zu schenken. Wäre einfach zu teuer. Und das kann ich ihnen nicht einmal übelnehmen.«
Buddy mustert Bookers nächsten Mandanten, eine zerbrechliche alte Frau, die gleichfalls einen Stapel Papiere bei sich hat. Dot fummelt an ihrer Packung Salems herum und steckt sich schließlich eine weitere zwischen die Lippen.
Wenn Donny Rays Krankheit tatsächlich Leukämie ist und er sie erst seit acht Monaten hat, dann kann sie unmöglich als bereits vor Vertragsabschluß bestehender Zustand bezeichnet werden. Wenn Leukämie nicht ausgeschlossen ist, dann muß Great Benefit zahlen. Das erscheint mir logisch, kommt mir vollkommen eindeutig vor, und da das Gesetz nur selten klar und nur selten logisch ist, weiß ich, daß irgendwo in den Tiefen von Dots Haufen von Ablehnungen Unheil auf mich wartet.
«Das verstehe ich einfach nicht«, sage ich, immer noch den Blöde-Brief anstarrend.
Dot bläst ihrem Mann eine dichte Wolke aus blauem Qualm an den Kopf, daß der Rauch nur so um ihn herumwirbelt. Seine Augen scheinen wieder trocken zu sein, aber ich bin mir nicht sicher. Sie schmatzt mit ihren klebrigen Lippen und sagt:»Es ist ganz einfach, Rudy. Das sind Gauner. Sie denken, wir sind nur einfache Leute, die sich nicht zu helfen wissen und kein Geld haben, um gegen sie zu kämpfen. Ich habe dreißig Jahre lang in einer Blue-Jeans-Fabrik gearbeitet — und ich war in der Gewerkschaft, müssen Sie wissen —, und wir haben Tag für Tag gegen die Firma gekämpft. Da war es genau dasselbe. Eine große Firma, die auf kleinen Leuten herumtrampelt.«
Abgesehen davon, daß mein Vater Anwälte haßte, versprühte er auch häufig Gift gegen die Gewerkschaften. Woraufhin ich mich natürlich zu einem glühenden Verteidiger der arbeitenden Massen entwickelte.»Dieser Brief ist unglaublich«, sage ich zu ihr.
«Welcher?«
«Der von Mr. Krokit, in dem er sagt, Sie wären blöde, blöde, blöde.«
«Dieser Mistkerl. Ich wollte, ich könnte ihn herschleppen und dazu bringen, mir das ins Gesicht zu sagen. Dieser Yankee-Bastard.«
Buddy wedelt sich den Rauch aus dem Gesicht und grunzt etwas. Ich sehe ihn an in der Hoffnung, daß er etwas sagen wird, aber er läßt es bleiben. Zum ersten Mal fällt mir auf, daß die linke Seite seines Kopfes eine Spur flacher ist als die rechte, und wieder schießt mir die Vorstellung durch den Kopf, wie er nackt durch den Flughafen wandert. Ich falte den BlödeBrief zusammen und lege ihn oben auf den Packen.
«Es wird ein paar Stunden dauern, bis ich das alles durchgesehen habe.«
«Ja, aber Sie müssen sich beeilen. Donny Ray macht es nicht mehr lange. Er wiegt noch fünfundfünfzig Kilo, von ursprünglich achtzig. An manchen Tagen geht es ihm so schlecht, daß er sich nicht auf den Beinen halten kann. Ich wollte, Sie könnten ihn sehen.«
Ich habe nicht das Verlangen, Donny Ray zu sehen.»Vielleicht später. «Ich werde mir die Police genau ansehen und die Briefe und Donny Rays Krankengeschichte, dann werde ich mich mit Smoot absprechen und einen netten, zwei Seiten langen Brief an die Blacks schreiben, in dem ich ihnen den ungemein weisen Rat gebe, daß sie den Fall einem richtigen Anwalt übergeben sollten, und zwar nicht nur einem richtigen Anwalt, sondern einem, der sich darauf spezialisiert hat, Versicherungsgesellschaften wegen Verstoßes wider Treu und Glauben zu verklagen. Ich werde ein paar Namen von solchen Anwälten einstreuen und die Telefonnummern gleich dazu. Dann habe ich dieses wertlose Seminar hinter mir und Smoot mit seiner Leidenschaft für Gruftirecht auch.
Bis zu meiner Graduierung sind es noch achtunddreißig Tage.
«Ich muß das alles mitnehmen«, erkläre ich Dot, als ich ihr Chaos zusammenraffe und nach den Gummibändern greife.»In zwei Wochen komme ich wieder, mit einem Brief mit Ratschlägen.«
«Weshalb dauert das zwei Wochen?«
«Also, äh, ich muß ein bißchen recherchieren, wissen Sie, mit meinen Professoren sprechen, ein paar Sachen nachschlagen. Können Sie mir Donny Rays medizinische Unterlagen schicken?«
«Natürlich. Aber bitte beeilen Sie sich.«
«Ich werde mein Bestes tun, Dot.«
«Glauben Sie, daß wir etwas in der Hand haben?«
Obwohl ich noch Jurastudent bin, habe ich doch schon eine Menge über unverbindliches Gerede gelernt.»Das läßt sich jetzt noch nicht sagen. Es sieht vielversprechend aus. Aber ich muß mich erst eingehend damit beschäftigen und recherchieren. Es wäre möglich.«
«Was zum Teufel bedeutet das?«
«Nun, äh, es bedeutet, daß ich glaube, daß Ihr Anspruch zu Recht besteht, aber bevor ich Genaueres sagen kann, muß ich mir das alles ganz genau anschauen.«
«Was für eine Art von Anwalt sind Sie?«
«Ich bin Jurastudent.«
Das scheint sie zu verblüffen. Sie preßt die Lippen fest auf den weißen Filter und funkelt mich an. Buddy grunzt zum zweiten Mal. Glücklicherweise kommt Smoot von hinten heran und fragt:»Wie läuft es hier?«
Dot mustert zuerst seine Fliege und dann seine wilde Mähne.
«Bestens«, sage ich.»Wir sind gerade fertig.«
«Gut«, meint er, als wäre die Zeit abgelaufen und es warteten schon die nächsten Mandanten. Er verzieht sich.
«Wir sehen uns in zwei Wochen wieder«, sage ich herzlich mit einem falschen Lächeln.
Dot drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus und beugt sich wieder näher an mich heran. Ihre Lippen beben plötzlich, und ihre Augen sind feucht. Sie berührt sanft mein Handgelenk und sieht mich hilflos an.»Bitte beeilen Sie sich, Rudy. Wir brauchen Hilfe. Unser Junge stirbt.«
Wir schauen uns eine Ewigkeit an, und schließlich nicke ich und murmele etwas. Diese armen Leute haben das Leben ihres Sohnes in meine Hände gelegt, in die eines Jurastudenten im dritten Jahr an der Memphis State. Sie glauben allen Ernstes, daß ich diesen Packen Papier, den sie mir zugeschoben haben, an mich nehme, nach dem Telefonhörer greife und ein paar Anrufe mache, ein paar Briefe schreibe, so mir nichts, dir nichts mit dem und jenem drohe, und Abrakadabra! geht Great Benefit in die Knie und spuckt Geld für Donny Ray aus. Und sie erwarten außerdem, daß das schnell passiert.
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