»Sie waren eine der letzten, die die Gemeindehalle verließen.«
»Ach ja. Ich glaube, nur Miss Thornburn, unsere liebe Akela, blieb länger.«
»Ist Ihnen zufällig aufgefallen, wann Miss Lacey gegangen ist?«
»Kurz vor vier.«
»Sind Sie sicher?« Blöde Frage. Er ahnte bereits, daß er eher einer allwissenden Person gegenübersaß als einer bloßen Beobachterin. Mrs. Rainbird hatte offenbar Augen wie ein Adler und, was noch bedeutsamer war, das erhabene Desinteresse eines Adlers an seinen Opfern.
»Ziemlich sicher«, erwiderte Mrs. Rainbird. »Sie schlich sich davon - das ist meine Meinung -, und zwar in einer ausgesprochen verstohlenen Art und Weise.« Sie ließ sich dazu herab, bei ihren letzten Worten Sergeant Troy eines Blickes zu würdigen, um ganz sicherzugehen, daß er auch alles ganz genau mitschrieb. »Aber ich würde doch zu gern erfahren, wieso wir gefragt werden, was am Nachmittag geschehen ist. Wie ich hörte, starb Miss Simpson doch viel später.«
»Wir kennen den exakten Zeitpunkt des Todes nicht.«
»Jedenfalls war sie um etwa fünf Uhr noch am Leben, weil ich sie selbst gesehen habe.«
»Sie haben sie gesehen?«
»Natürlich.« Sie genoß diesen Moment seiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Dennis verrenkte sich den Hals und grinste sie anerkennend an. »Ich war zufällig oben in meinem Unterschlupf und skizzierte den Flug von Ziegenmelkern. Emily lief im Eilschritt durch die Church Lane - sie kam aus der Richtung, in der der Wald liegt. Einmal blieb sie stehen und hielt sich die Seite. Ich habe noch überlegt, ob ihr vielleicht nicht gut ist, und wollte zu ihr gehen, aber dann kam Denny zum Tee nach Hause. Stimmt's, Schätzchen?« Festigte sich ihr Griff an seiner Schulter? Jedenfalls erwachten die funkelnden Juwelen zu neuem Leben.
»Mhm.« Dennis legte kurz die Wange an ihr Knie. »Ich komme gewöhnlich um halb sechs nach Hause, aber an diesem Abend...«
»Falls es Ihnen nichts ausmacht, Mr. Rainbird, kommen wir später auf diese Einzelheiten zurück.«
»Ich kann es kaum erwarten.« Dennis biß sich auf die Unterlippe. Sein Gesicht überzog sich mit einem rosigen Hauch vor Freude darüber, daß er Empfänger derart gebieterischer Instruktionen geworden war. Er schenkte Sergeant Troy ein Lächeln, das mindestens so süßlich und ekelhaft war wie die Meringue, die Troy in Angriff genommen hatte. »Ich glaube, dem Sergeant schmeckt das Maronenmus Lyonnaise nicht, Mutter.«
»Dann mußt du ihm unbedingt von der Mandelcreme geben ... Ja«, sie wandte sich wieder an Barnaby, »ich war ernsthaft in Sorge um sie. Ich hatte schon beinahe beschlossen, ihr nach dem Essen einen Besuch abzustatten, aber dann waren wir so in ein Monopolyspiel vertieft, daß ich mir dachte, es hätte Zeit bis zum nächsten Morgen. Sie hatte ja schließlich ein Telefon, und Miss Bellringer wohnt nicht weit weg. Wir haben an diesem Abend keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt, nicht wahr, Schätzchen?«
»Nein, wir sind richtige kleine Stubenhocker.«
»Und wer hatte die Schloßallee?«
»Ich, ich! Und einen ganzen Straßenzug auf der anderen Seite!« jubilierte Dennis.
»Trotzdem sah ich Katherine Lacey noch einmal. So gegen acht Uhr.«
»Tatsächlich? War das nicht ein wenig spät, um Ihrem Hobby zu frönen, Mrs. Rainbird? Welche Vögel sind um diese Zeit schon noch unterwegs?«
»Eulen, Mr. Barnaby.« Sie blitzte ihn scharf an.
»Ah.«
»Tiere der Nacht.«
»Stimmt.«
»Wir haben eine kleine Pause bei unserem Spiel gemacht, Denny kochte Kaffee, und ich schaute rein zufällig aus dem Fenster.«
»Ich verstehe. Haben Sie gesehen, wohin Miss Lacey ging?« Sie beugte sich vor, um die Spannung zu steigern, und, da ihre Hand immer noch auf der Schulter ihres Sohnes ruhte, tat er es ihr gleich.
Was für ein makabres Schauspiel, dachte Barnaby und fühlte sich unweigerlich an ein Stück von Joe Orton erinnert, in dem seine Frau im letzten Monat mitgewirkt hatte. Dieses seltsame Paar hätte blendend in die verdrehte Handlung gepaßt.
»Sie bog in die Church Lane ein.«
»Meinen Sie, sie hat jemanden besucht?«
»Das konnte ich nicht sehen. Die Straße macht eine scharfe Rechtskurve. Sie hatte einen der Beagles dabei und einen Brief in der Hand.«
»Dann ging sie möglicherweise nur zum Briefkasten.« Mrs. Rainbird zog eine Augenbraue hoch, bis sie aussah wie eine aufgemalte, dünne Mondsichel, und brachte damit zum Ausdruck, daß Barnaby ja denken konnte, was er wollte.
»Und haben Sie sie zurückgehen sehen?« erkundigte er sich weiter.
»Leider nein.« Ihre Stimme bebte verärgert. »Mrs. Paunce-foot rief an. Sie wollte noch einen Strauß Lilium regale für das Pult der Wettkampfrichter. Wenn ich das gewußt hätte«, sie schlug mit der Faust in ihre Handfläche, »wäre ich auf meinem Posten geblieben.«
Ihre Miene war mehr als nur verdrießlich. Sie schien vor Wut zu kochen, weil sie eine so günstige Gelegenheit verpaßt hatte. Offensichtlich konnte sie es nicht ertragen, wenn sie nicht immer ganz genau informiert war, was zwischen den Leuten und im Dorf vor sich ging. Von wegen nur den Flug von Ziegenmelkern zu skizzieren, dachte Barnaby und begann, Mrs. Rainbirds Sohn Fragen zu stellen.
»Ich war den ganzen Nachmittag im Geschäft, das kann Ihnen übrigens mein Partner bestätigen, bin um Viertel vor fünf gegangen, direkt nach Hause gefahren und hier geblieben.«
»Ich wußte gar nicht, daß Sie einen Partner in Ihrem Geschäft haben, Mr. Rainbird.«
»Mutter hat mich dort zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag eingekauft. Ich hatte schon drei Jahre zuvor bei dem Unternehmen gearbeitet und wußte, daß ich nie etwas anderes tun will.« Er umarmte ihre Knie wie ein kleiner Junge. »Ich liebe diese Branche. Verstehen Sie?«
Barnaby heuchelte Verständnis. Im Grunde machte er sich keine großen Gedanken um Mr. Rainbirds Alibi. Er versprach sich Nützlicheres von seinem Besuch hier in Tranquillada - Hintergrundinformationen über die Dorfbewohner. Und Klatsch. Wenn er Iris Rainbird richtig beurteilte, konnte sie ihm beides bieten, solange er die Sache richtig anpackte.
Er sagte: »Mrs. Rainbird, ich hoffe, Sie wissen, wie dankbar wir sind, daß wir uns an jemanden wenden können, der so aufmerksam und eine derart gute Beobachterin ist wie Sie. Mit Ihrer Hilfe können wir sicher einige Informationslücken füllen.« Die Haarpagode neigte sich anmutig. »Sagen Sie - Miss Lacey und ihr Bruder, leben sie schon lange im Dorf?«
»Ihr ganzes Leben lang. Obwohl sie nicht immer im Holly Cottage gewohnt haben. Ihre Eltern hatten ein wenig außerhalb auf dem Weg nach Gessler Tye ein großes Farmhaus. Das Land war nicht der Rede wert, sie hatten lediglich einen ziemlich großen Garten. Oh, damals waren sie sehr hochnäsig - Oberschicht, verstehen Sie? Mit alter Nanny, die schon seit langem auf die Sprößlinge der Familie aufpaßte, die Kinder gingen in Bedales auf die Schule, hatten Ponies und Autos, und alle fünf Minuten ging’s ab nach Frankreich. Schießen, jagen und reiten in den Ferien. Sie kamen sich vor, als wären sie adlig. Natürlich waren sie das nicht - kein Stammbaum und so.« Sergeant Troy schrieb nicht mehr mit. Er erkannte die Gehässigkeit in dieser Bemerkung sofort, konnte sich jedoch nicht zusammenreimen, wieso Mrs. Rainbird solche Vorbehalte gegen die Laceys hegte. »Die Leute mochten Madelaine, aber er war ein gräßlicher Kerl. Trank ’ne Menge und fuhr wie ein Verrückter. Er war auch gewalttätig. Man sagt, er hätte sie mißhandelt. Ziemlich herzlos ...«
»Genau wie sein Sohn«, warf Dennis impulsiv ein, seine fahlen Wangen wurden rot. Diesmal war nicht zu übersehen, daß sich die beringte Hand warnend um seine Schulter klammerte. »Zumindest... habe ich das gehört«, setzte er stammelnd hinzu.
»Die Kinder waren ungefähr dreizehn, als all das schöne Geld plötzlich weg war. Er hatte sich verspekuliert, eine zweite Hypothek aufgenommen, noch mehr riskiert und alles verloren. Das hat Madelaine umgebracht.«
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