»Wo genau waren Sie tätig?«
»Etwa drei Meilen von hier an der Gessler Tye Road. Ich habe Zäune repariert. Vor einigen Tagen ist dort ein häßlicher Unfall passiert, und ein beträchtliches Stück von dem Zaun war kaputt.«
Barnaby nickte. »Und als Sie damit fertig waren?«
»Ich fuhr nach Causton und bestellte Maschendraht. Dann ging ich nach Hause.«
»Verstehe. Sie waren nicht mehr im Büro?«
»Nein. Es war schon kurz vor sechs, als ich von Causton zurückkam. Ich muß keine Stechuhr bedienen oder mich an-und abmelden. Ich bin kein Lohnarbeiter.« Er bemühte sich, belustigt zu wirken, aber es war nicht zu überhören, daß er aufgebracht war.
»Und Ihr Zuhause ist...«
»In Witchetts. Das Haus mit den grünen Läden, gegenüber vom Pub. Es ist sozusagen eine Dienstwohnung.«
»Und wie haben Sie den Abend verbracht?«
»Ich duschte. Hab’ was getrunken und ein bißchen ferngesehen. Dann ging ich in den Bear in Gessler, um etwas zu essen und Gesellschaft zu haben.«
»Um wieviel Uhr war das?«
»Ich denke, so um halb acht.«
»Sind Sie verheiratet, Mr. Whiteley?«
»Das geht Sie gar nichts an.«
»David!« rief Henry Trace. »Es besteht wirklich kein Grund...«
»Tut mir leid, aber ich sehe, verdammt noch mal, nicht ein, was es mit dem Tod einer alten Frau, die ich nicht einmal richtig kannte, zu tun hat, ob ich verheiratet bin oder nicht.« Er preßte störrisch die Lippen zusammen, verschränkte die Arme und schlug die Beine übereinander. Einen Moment später stellte er sie kurz wieder nebeneinander, ehe er sie nach der anderen Seite kreuzte. Barnaby stellte eine vollkommen gleichgültige Miene zur Schau und blieb ganz gelassen in seinem Sessel sitzen. Henry und Katherine war die Szene offensichtlich peinlich. Troy musterte spöttisch Whiteleys angespannte Muskeln. Er kannte diese Typen. Sie bildeten sich ein, tolle Hengste zu sein. Aber wahrscheinlich bekamen sie ohne ein halbes Dutzend Bier und einen Softporno keinen hoch. Das Schweigen dehnte sich in die Länge, bis David Whiteley schließlich tief seufzte.
»Na ja, wenn Sie es unbedingt wissen müssen, ich bin verheiratet, aber wir leben seit drei Jahren getrennt. Genaugenommen seit dem Tag, an dem ich die Arbeit hier angenommen habe. Sie ist Privatlehrerin und wohnt in Slough. Und, um Ihnen weitere Schnüffeleien über meine Familienverhältnisse zu ersparen, wir haben einen neunjährigen Sohn. Sein Name ist James Laurence Whiteley, und als ich ihn das letzte Mal sah, war er etwa einszwanzig groß und wog knapp dreißig Kilo. Er war verrückt nach seinem BMX-Rad und Computerspielen und spielte leidlich gut Basketball. Natürlich ist das alles schon einige Zeit her. Vielleicht ist das alles inzwischen ganz anders geworden.« Aus dieser letzten Bemerkung sprach weder Sarkasmus noch Zorn, vielmehr übermannten ihn die Gefühle, und er verstummte.
»Danke, Mr. Whiteley.« Barnaby wartete eine Weile, dann fuhr er fort: »Um zum Abend des Siebzehnten zurückzukommen - können Sie mir sagen, wann Sie den Bear verließen?«
Whiteley holte tief Luft, bevor er antwortete: »Ungefähr dreißig Minuten vor der Sperrstunde. Sie werden es dort genauer wissen. Ich bin Stammgast im Bear.«
»Und sind Sie sofort nach Hause gefahren?«
»Ja.«
»Würden Sie mir freundlicherweise sagen, was für einen Wagen Sie fahren und wie Ihr Kennzeichen ist?«
»Es ist ein Citroën Estate. ETX 373 V.«
»Gut.« Barnaby stand auf. »Sie waren alle sehr hilfreich. Miss Lacey, soweit ich mich erinnere, erwähnten Sie, daß noch eine Person in diesem Haus lebt.«
»Ja«, antwortete Henry Trace für sie, »Phyllis. Aber ist sie im Moment nicht in ihrem neuen Häuschen?«
»Nein.« Katherine erhob sich. »Ich habe vor einer halben Stunde gehört, wie sie heimkam. Ich zeige Ihnen den Weg.« Sie richtete die Worte an Barnaby, sah ihn aber nicht an. Als sie den ersten Schritt tat, ergriff Henry ihre Hand und hielt sie zurück.
»Komm gleich wieder, ja?«
»Natürlich.« Sie bückte sich und hauchte einen Kuß auf seinen Mundwinkel. Es war ein sittsamer, unschuldiger Kuß, aber der Blick, den sie dafür erntete, war alles andere als unschuldig. Die beiden geben ein schönes Bild ab, dachte Barnaby. Trace mit seinem ausgeprägten Profil und das frische junge Mädchen, das sich anmutig zu ihm beugt - ein bezaubernder Anblick vor dem Hintergrund des weichfallenden, grauen Seidenvorhangs ... Vielleicht war es diese theatralisch angehauchte Szene, die Barnaby auf den Gedanken brachte, daß irgend etwas nicht ganz natürlich wirkte. Alles war auf gekünstelte Weise perfekt und strotzte vor falschem Pathos wie eine kitschige viktorianische Glückwunschkarte oder eine Illustration von Dickens. Er hätte nicht erklären können, was genau diese Empfindung in ihm weckte, denn er glaubte im Grunde nicht, daß Katherine und Henry ihm etwas vorspielten. Er wandte leicht den Kopf, um David Whiteley mit den beiden anderen im Blick zu haben. Vielleicht war seine Anwesenheit schuld an seinen Zweifeln - oder, konkreter, die Tatsache, daß sich das Mädchen für den falschen Mann entschieden hatte. Daß Jugend zu Jugend gehörte. Barnaby sah, daß Whiteley das Mädchen nicht aus den Augen ließ, auch sein Blick war weit von Unschuld und Sittsamkeit entfernt. Henry Trace wäre nach Barnabys Ansicht ein außergewöhnlicher Mann, wenn er sich keine Gedanken darüber machen würde, was seine Verlobte und der Gutsverwalter außer Sichtweite taten... Ein Sammler erwartete selbstverständlich Habgier und Neid von einem anderen Sammler, besonders wenn es um ein so wertvolles Stück ging.
Katherine führte sie die gewundene Treppe hinauf und durch einen anderen Flur. Hier standen an den Wänden halbovale, glänzend polierte Tische mit Blumenvasen, Tabakdosen und Miniaturen.
»Wie heißt die Lady mit vollem Namen?«
»Phyllis Cadell.«
»Miss?«
»Das können Sie als sicher annehmen.« Der bissige Unterton machte Barnaby neugierig - das gefiel ihm. Zuviel Liebreiz und Güte konnten, seiner Meinung nach, mit der Zeit abstoßend sein. Ihm gefiel es, wenn die Menschen, wie er es nannte, »Ecken und Kanten« hatten. Er fragte sich, welche Stellung Phyllis Cadell in diesem Haushalt einnahm und ob sich für sie nach Henrys und Katherines Hochzeit etwas änderte. Bestimmt würde jede neue Ehefrau die Zügel allein in die Hand nehmen wollen. Und mit einem behinderten Mann an ihrer Seite mußte sie außergewöhnlich tüchtig sein. Er betrachtete Miss Laceys leicht sonnengebräunte Hand, als sie an die Tür klopfte. Sie war kräftiger, als ihre sonstige blumenzarte Erscheinung es vermuten ließ.
»O Phyllis - tut mir leid, daß ich dich stören muß...« Barnaby betrat nach ihr das Zimmer und stand einer ziemlich pummeligen Frau mittleren Alters mit pferdeähnlichem Gesicht, stachelbeergrünen Augen und mausbraunen Haaren gegenüber - die Frisur mit den Ponyfransen und den kleinen Löckchen wirkte zu jugendlich, ja albern über dem langen, blassen Gesicht. Phyllis Cadell saß vor einem flimmernden Fernseher und hatte eine Schachtel mit Fondant-Pralinen auf dem Schoß.
»... es ist die Polizei.«
Die Frau zuckte erschrocken zusammen und sprang auf. Die Fondant-Pralinen flogen in alle Richtungen. Als sie sich bückte, war ihr Gesicht verdeckt, aber Barnaby hatte gesehen, wie die Angst in ihren Augen aufgeflackert war. Katherine bückte sich auch. Es waren verschiedene Sorten Fondant: Vanille, Mokka, Schokolade, und einige Pralinen waren mit Walnüssen oder Kirschen verziert.
»Die wirst du nicht mehr essen können, Phyllis.«
»Ich kann sie selbst aufheben, danke. Geh jetzt.« Sie stopfte wahllos die Pralinen in die Schachtel zurück und sah die beiden Männer immer noch nicht an.
»Dann begleitest du Chief Inspector Barnaby nachher hinaus?« Katherine erhielt keine Antwort; sie wandte sich zum Gehen um und sagte noch, bevor sie die Tür zumachte: »Es ist wegen Miss Simpson.«
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