Barnaby bemerkte, wie nach dieser Erklärung die Farbe in die Wangen der älteren Frau zurückkehrte, aber ungleichmäßig, so daß ihre Haut aussah, als wäre sie im Feuer geröstet worden. »Natürlich, die arme Emily«, sprudelte es aus ihr heraus. »Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht? Setzen Sie sich... nehmen Sie beide Platz.«
Barnaby entschied sich für den braunen Sessel neben dem Kamin und sah sich um. Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre als im großen Salon. Die Möbel an sich waren nicht unbehaglich, aber das Zimmer wirkte unpersönlich ohne Nippes und Fotografien. Wenige Bücher. Ein paar Exemplare der Zeitschrift The Lady, geschmacklose Drucke an den Wänden und eine verdorrte Pflanze auf dem Fensterbrett. Wenn der Fernseher nicht gewesen wäre, hätte man meinen können, im Wartezimmer eines Zahnarztes zu sitzen. Phyllis Cadell schaltete den Fernseher aus und ließ sich ihnen gegenüber nieder. Die Angst, die bei der Ankunft der Polizisten offensichtlich gewesen war, hatte sie inzwischen unter Kontrolle. Sie richtete einen gleichgültigen Blick auf ihre Besucher. Lediglich ihre fest zusammengepreßten Knie und die angespannten Sehnenstränge an dem weichen, schwammigen Hals verrieten Barnaby, daß sie innerlich aufgewühlt und nervös war. Bereitwillig erzählte sie, was sie am Siebzehnten getan hatte und wo sie gewesen war. Am Nachmittag hatte sie in der Gemeindehalle bei den Vorbereitungen für den Reiterwettbewerb und die Tombola mitgeholfen, und am Abend hatte sie - »ich schäme mich, das einzugestehen, Chief Inspector« - vor dem Fernseher gesessen.
Das überraschte Barnaby kein bißchen. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie sich diese massige Gestalt, befreit von einzwängenden Korsetts, auf dem Waldboden herumwälzte. Dennoch schloß er diese Möglichkeit nicht gänzlich aus. Es war manchmal erstaunlich, welche Typen in anderen romantische Gefühle und Sehnsüchte wecken konnten. Wie oft hatte er seine Frau schon sagen hören: »Ich weiß nicht, was er an der findet«, oder - weniger oft: »Wieso gibt sie sich mit so einem Kerl überhaupt ab?« Nein, das, was dagegen sprach, daß sich Phyllis Cadell mit einem Liebhaber im Freien ausgetobt hatte, war nicht ihre unattraktive Erscheinung, sondern eher die Tatsache, daß sie bei einer Entdeckung nichts zu verlieren hätte. Im Gegenteil - wenn man bedachte, welchen Stellenwert unverheiratete Frauen mittleren Alters in der Gesellschaft einnahmen, könnte sie durch eine Liebschaft vermutlich sogar an Ansehen gewinnen. Aber weshalb war ihr dann der Schreck so in die Glieder gefahren, als sie hörte, daß die Polizei sie sprechen wollte?
»Um welche Zeit haben Sie die Gemeindehalle verlassen, Miss Cadell?«
»Lassen Sie mich nachdenken«, sie tippte sich mit einem bleichen Finger an die Oberlippe, »ich war fast die letzte ... es muß so gegen halb fünf gewesen sein, vielleicht Viertel vor fünf.«
»Sind Sie zusammen mit Miss Lacey gegangen?«
»Mit Katherine? Liebe Güte, nein! Sie ist viel früher gegangen. Sie war überhaupt nur ganz kurz da.« Ihr fiel auf, daß Troy interessiert aufsah und Barnabys unbewegliches Gesicht musterte, und stieß einen kleinen Laut aus, der Reue Vortäuschen sollte. »Lieber Himmel, hoffentlich habe ich jetzt nichts Falsches gesagt.«
»Haben Sie später das Haus noch einmal verlassen?«
»Nein, ich ging nach dem Abendessen sofort in mein Zimmer, schrieb ein paar Briefe und sah dann, wie ich bereits zum Ausdruck brachte, fern.«
Wie ich bereits zum Ausdruck brachte, dachte Troy und schrieb eifrig mit. Die Leute drückten sich oft so eigenartig aus, wenn sie mit Polizisten sprachen. Sie benutzten Formulierungen, die ihnen sonst nie einfallen würden. Er hörte zu, als Miss Cadell detailliert erzählte, welche Sendungen sie sich angesehen hatte, dann setzte sie hinzu, als fürchte sie, sich durch ihre genaue Schilderung verdächtig zu machen: »Ich erinnere mich nur daran, weil es ein Freitag war. Da kommt immer die Sendung für Gartenliebhaber, müssen Sie wissen.«
Die hatte Barnaby auch gesehen - er ließ sie sich nie entgehen, wenn er rechtzeitig Dienstschluß hatte. »Wohnt Personal hier im Haus?« fragte er.
»Nein, wir haben einen Gärtner und einen Jungen, der ihm hilft. Sie kümmern sich um das Grundstück, waschen die Autos und führen kleinere Reparaturarbeiten durch. Und dann ist da noch Mrs. Quine. Sie kommt ungefähr um zehn Uhr, macht sauber, putzt das Gemüse fürs Abendessen, kocht eine Kleinigkeit zu Mittag und geht um drei wieder. Ich bereite das Dinner zu, und sie räumt ab und spült das Geschirr, wenn sie am nächsten Morgen kommt. Ich hoffe, daß Katherine sie behält. Sie bringt immer ihre kleine Tochter mit - nicht jeder Arbeitgeber akzeptiert Kinder. Seltsamerweise hat Mrs. Quine auch bei Miss Simpson gearbeitet. Sie war jeden Morgen eine Stunde bei ihr, bevor sie zu uns kam ...«
»Werden Sie nach der Hochzeit weiterhin hier wohnen, Miss Cadell?«
»Lieber Himmel, nein!« Sie gab ein ersticktes Jaulen von sich, das auch ein Lachen hätte sein können. »Ein Haus verträgt keine zwei Herrinnen. Nein, ich werde ausquartiert. Henry hat einige Cottages auf seinem Anwesen. Und zwei davon ... wie sagt man das?... stoßen direkt aneinander und haben eine Verbindungstür. Dort ist auch ein kleiner Garten. Es ist... sehr hübsch.«
Nicht so hübsch, wie Hausherrin von Tye House zu sein, dachte Barnaby und sah wieder den wunderschönen Anblick der Orangerie vor sich. Nicht annähernd so hübsch.
»War Mr. Trace lange Witwer?« Da war sie wieder, die aufflackernde Angst. Phyllis Cadell wandte sich ab und betrachtete den nichtssagenden Druck an der Wand.
»Ich verstehe nicht, welche Bedeutung das im Zusammenhang mit Miss Simpsons Tod haben soll.«
»Ich bitte um Verzeihung.« Detective Chief Inspector Barnaby wartete. Seiner Erfahrung nach hatten Menschen (abgesehen von knallharten Verbrechern), die etwas zu verbergen hatten, und solche, die nichts zu verbergen hatten, eines gemeinsam: Wenn sie einem Polizisten, der Fragen stellte, gegenübersaßen, konnten sie nie lange schweigen. Nach einer Weile fing Phyllis Cadell tatsächlich an zu sprechen. Die Worte sprudelten aus ihr heraus, als könnte sie es gar nicht erwarten, sie loszuwerden und die Sache hinter sich zu bringen.
»Bella starb vor ungefähr einem Jahr. Im September. Ein Jagdunfall. Es war eine schreckliche Tragödie. Sie wurde nur zweiunddreißig Jahre alt. In der Lokalzeitung stand damals ein ganzer Artikel über den Unfall.«
Das alles kommt in einem Atemzug über ihre milchweißen Lippen, dachte Barnaby, und laut sagte er: »Kamen Sie zu diesem Zeitpunkt her, um den Haushalt zu führen?«
»O nein. Ich zog gleich nach der Hochzeit hier ein. Bella hatte nicht das geringste Interesse an Hausfrauenpflichten. Ihre Vorlieben lagen woanders - beim Reiten und Fischen. Und sie kümmerte sich natürlich um Henry. Sie waren etwa fünf Jahre verheiratet, als sie starb.«
»Miss Lacey scheint ein wenig jung zu sein, um so schwerwiegende Aufgaben zu übernehmen«, bemerkte Barnaby, aber sie ging nicht auf die Herausforderung ein: Mittlerweile hatte sie ihre Emotionen fest im Griff.
»Oh, ich weiß nicht. Ich denke, sie wird eine sehr charmante Hausherrin sein. Und jetzt«, sie stand auf, »wenn das alles ist...«
Sie führte sie entschlossenen Schrittes die Treppe hinunter zur Eingangshalle und machte unvermittelt zwischen zwei alten, einstmals mit Goldlack überzogenen Holzstatuen halt. Einen Moment lang standen sie alle auf dem schwarzweiß getäfelten Boden wie Schachfiguren, als könnten sie ihre nächsten Schritte erst tun, wenn sie jemand vorwärts schob. Phyllis trat von einem Fuß auf den anderen (die bedrängte Dame des königlichen Spiels), dann begann sie: »Äh ... Sie müssen gedacht haben, daß ich bei Ihrem Anblick vorhin ziemlich erschrocken bin, nicht wahr?«
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