»Womit fangen wir an?«
Und da saßen sie nun, wenige Straßenecken von Achille Replingers Buchhandlung entfernt, die sie ohne Rückendek-kung ausgekundschaftet hatte, während Corso seinen zweiten Gin des Tages trank und bereits ahnte, daß es nicht der letzte sein würde.
»Wir können gleich hingehen«, wiederholte sie.
Corso zögerte noch einen Augenblick. Er hatte von ihr geträumt, von ihrer braunen Haut, die im Licht eines Sonnenuntergangs schimmerte. Die Nacht streckte schon ihre Schatten voraus, und sie ging an seiner Hand über eine kahle Hochebene, an deren Horizont sich Rauchsäulen erhoben und Vulkane, die kurz vor dem Ausbruch waren. Hin und wieder begegneten sie einem Soldaten mit todernster Miene und staubbedeckter Rüstung, der sie stumm ansah - kalt und abweisend wie die finsteren Trojaner im Hades. Auf einmal verdüsterte sich die Hochebene, die Rauchsäulen am Horizont wurden dichter, und der Ausdruck der starren, gespensterhaften Gesichter der toten Krieger schien fast vor etwas zu warnen. Corso wollte weglaufen und zerrte das Mädchen hinter sich her, aber die Dunkelheit holte sie ein, die Luft wurde immer heißer, stickiger und verschlug ihnen den Atem. Sie rannten und rannten, bis sie erschöpft, aber unendlich langsam zusammenbrachen, wie in einer Zeitlupenaufnahme. Die Finsternis brannte, als sei er plötzlich in einen Hochofen geraten. Seine einzige Verbindung nach draußen war die Hand des Mädchens, die sich an ihm festklammerte. Das letzte, was er spürte, war ihr Händedruck, der plötzlich nachließ, während sich die Hand in Asche verwandelte. Und vor ihm, inmitten der dichten Nebelschwaden, die sich über der brennenden Hochebene und über seinem Bewußtsein ausbreiteten, blitzte gespenstisch ein Totenschädel auf. Wahrhaftig keine sehr angenehme Erinnerung.
Corso leerte sein Ginglas, um die Asche hinunter und die Horrorvision aus seinen Augen zu spülen, und sah das Mädchen an. Sie betrachtete ihn mit der Geduld einer disziplinierten Sekretärin, die auf Anweisungen wartet. Unglaublich, mit welcher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit sie die Rolle spielte, die ihr in dieser Geschichte zugefallen war. Ihr Gesichtsausdruck verriet sogar eine gewisse Ergebenheit, die Corso unerklärlich war und ihn verwirrte.
Er stand auf und hängte sich seine Segeltuchtasche über die Schulter. Dann schlenderten sie nebeneinander zur Seine hinunter. Das Mädchen ging auf der Innenseite des Trottoirs und blieb hin und wieder vor einem Schaufenster stehen, wenn ein Gemälde, ein alter Stich oder ein Buch ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie betrachtete alles mit offenen Augen, großer Neugier und einem Anflug von Nostalgie um den Mund. Manchmal lächelte sie nachdenklich. Corso hatte das Gefühl, sie suche in den alten Gegenständen nach sich selbst - als falle irgendwo in ihren Erinnerungen die eigene Vergangenheit mit der jener wenigen Überlebenden zusammen, die das Meer der Geschichte nach jedem Schiffbruch hier angespült hatte.
Es gab zwei Antiquariate, eines rechts und eines links von der Straße, einander genau gegenüber. Das von Achille Replinger war sehr alt. Es war außen mit lackiertem Holz verkleidet und besaß ein elegantes Schaufenster, über dem auf einem Schild geschrieben stand: Livres anciens, autographes et documents historiques. Corso befahl dem Mädchen, draußen zu warten, und sie gehorchte ihm widerspruchslos. Als er auf die Ladentür zuschritt und dabei einen Blick in das Schaufenster warf, konnte er feststellen, daß sie sich oberhalb seiner Schulter darin spiegelte; sie stand auf dem gegenüberliegenden Gehweg und sah ihm nach.
Bei seinem Eintreten ertönte ein Glöckchen. Corso nahm einen schweren Eichentisch wahr, Wandregale voll alter Bücher, Mappen mit Stichen in Plastikhüllen und wohl ein Dutzend altmodischer Holzkartotheken. Eine jede von ihnen war auf schön gestalteten Blechschildchen alphabetisch gekennzeichnet. An der Wand hing eine gerahmte Originalhandschrift mit der Legende: Fragment aus Tartuffe. Molière, und daneben drei wertvolle alte Fotografien: Dumas zwischen Victor Hugo und Flaubert.
Achille Replinger stand hinter dem Tisch. Er war ziemlich korpulent, eine Art Porthos mit dichtem grauem Schnurrbart und rötlichem Gesicht. Aus dem Kragen seines Hemdes, über dem er eine Strickkrawatte trug, quoll ein mächtiges Doppelkinn. Er war teuer, aber sehr nachlässig gekleidet: Um seine füllige Taille schlappte eine englische Jacke, und die Flanellhose war zerknittert und hing ein wenig nach unten.
»Corso ... Lucas Corso.« Er drehte das Begleitkärtchen Boris Balkans zwischen den kräftigen, fettgepolsterten Fingern herum und runzelte die Stirn. »Ja, ich erinnere mich an Ihren Anruf von neulich. Irgendwas mit Dumas.«
Corso legte seine Tasche auf den Tisch und zog den Ordner mit den fünfzehn handgeschriebenen Seiten des Vin d’Anjou heraus. Der Antiquar breitete sie vor sich aus und zog eine Augenbraue hoch.
»Kurios«, murmelte er. »Sehr kurios.«
Er atmete stoßweise und keuchend, als leide er an Asthma. Nach einem kritischen Blick auf seinen Besucher zog er eine Brille mit Bifokalgläsern aus der oberen Jackentasche und setzte sie auf. Dann beugte er sich über die Seiten. Als er den Kopf wieder hob, stand ein entzücktes Lächeln auf seinem Gesicht.
»Phantastisch«, sagte er. »Das kaufe ich Ihnen auf der Stelle ab.«
»Ich möchte nicht verkaufen.«
Der Buchhändler schien überrascht und schürzte schmollend die Lippen.
»Ich dachte ...«
»Mir geht es nur um ein Gutachten. Gegen Bezahlung, versteht sich.«
Achille Replinger wackelte mit dem Kopf - Geld war das wenigste. Er wirkte verblüfft und sah Corso über den Rand seiner Brille hinweg mißtrauisch an. Dann bückte er sich erneut über das Manuskript.
»Schade«, sagte er endlich, und sein fragender Blick verriet, daß er zu gerne gewußt hätte, wie diese Seiten in Corsos Hände gelangt waren. »Wie sind Sie zu diesem Manuskript gekommen?«
»Erbschaft ... Eine verstorbene Tante. Haben Sie es vorher schon einmal zu Gesicht bekommen?«
Der Antiquar sah, immer noch argwöhnisch, durch das Schaufenster hinter Corsos Rücken auf die Straße hinaus. Man hätte meinen können, er erwarte sich von einem der Passanten Aufschluß über den wahren Grund dieses Besuchs. Vielleicht suchte er aber nur nach einer passenden Antwort. Schließlich setzte er ein ausweichendes Lächeln auf und faßte an seinen Schnauzer, als wolle er - wie bei einem falschen Bart - sicher-gehen, daß er nicht verrutscht war.
»Hier im >Quartier< weiß einer nie, ob er etwas schon einmal zu Gesicht bekommen hat oder nicht . In diesem Viertel ist schon immer mit alten Büchern und Stichen gehandelt worden . Die Leute kommen hierher, kaufen und verkaufen, und zum Schluß geht alles mehrmals durch dieselben Hände.« Er machte eine Pause und holte Luft - drei kurze Atemzüge -, bevor er Corso einen beunruhigten Blick zuwarf. »Aber dieses Original ... nein«, sagte er, »ich glaube nicht, daß ich das je gesehen habe.« Er blickte wieder auf die Straße hinaus, während sein Gesicht an Röte zunahm. »Sonst würde ich mich bestimmt daran erinnern.«
»Darf ich daraus schließen, daß es echt ist?« wollte Corso wissen.
»Nun ... eigentlich schon.« Der Buchhändler röchelte, während er mit den Fingerkuppen vorsichtig über die Blätter fuhr, fast schien es, er scheue sich, sie zu berühren. Dann faßte er aber doch eines mit Daumen und Zeigefinger an und hob es hoch: »Halbrunde, enge Schrift, mittelstarker Auftrag der Tinte, keine Durchstreichungen . Sparsamer Umgang mit Satzzeichen, unerwartete Großbuchstaben. Das ist zweifellos der reife Dumas, um die Mitte seines Lebens herum, als er die Musketiere schrieb.« Replinger hatte sich zusehends ereifert. Jetzt hielt er plötzlich mit erhobenem Finger inne, und Corso konnte sehen, wie er unter seinem Schnurrbart lächelte. »Warten Sie mal.«
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