»Ungläubiger Mensch.«
Jetzt spielte wieder ein abwesendes Lächeln um ihre Lippen, und der Bücherjäger gelangte zu der Überzeugung, daß aus ihrer tiefgründigen und zugleich frivolen Selbstsicherheit eine übertriebene Reife sprach. Dieses junge Mädchen folgte ungewöhnlichen Regeln und Reizen; und die Gedankengänge, die sich in ihrem Kopf abspielten, mußten bei weitem komplexer sein, als ihr Alter und ihr Aussehen es vermuten ließen.
Auf einmal vergaß Corso jedoch alles um sich herum: das Mädchen, das seltsame Abenteuer, in das er hineingeraten war, ja selbst die fehlende Leiche Victor Fargas’. Auf dem ausgefransten Gobelin mit der Schlacht von Gaugamela, inmitten der Bücher über Okkultismus und Teufelskünste, klaffte eine Lücke. Die Neun Pforten waren verschwunden.
»Scheiße«, entfuhr es ihm.
Und er wiederholte es mehrmals zähneknirschend, während er sich über die Bücherreihen beugte und in die Hocke ging. Sein fachmännisches Auge, das ein Buch für gewöhnlich auf den ersten Blick ortete, irrte hilflos und verwaist herum. Schwarzes Maroquin, fünf Bünde, außen kein Titel, aber ein
Pentagramm auf dem Deckel. Umbrarum regni et cetera. Kein Zweifel: ein Drittel des Mysteriums - 33,33 Prozent, um es mathematisch genau auszudrücken - hatte sich in Luft aufgelöst. »Der Teufel soll mich holen.«
Zu früh für Pinto, überlegte er sofort; so schnell konnte der Portugiese den Diebstahl unmöglich organisiert haben. Das Mädchen beobachtete ihn, als erwarte sie sich irgendeine aufschlußreiche Reaktion von ihm. Corso richtete sich auf.
»Wer bist du?«
Es war das zweitemal in weniger als zwölf Stunden, daß er dieselbe Frage stellte, und zwar unterschiedlichen Personen. Die Dinge gerieten bedenklich schnell in Unordnung. Was das Mädchen betraf, so hielt sie seinem Blick und seiner Frage stand. Nach ein paar Sekunden wanderten ihre Augen an Corso vorbei ins Leere. Vielleicht auch zu den Büchern, die aneinandergereiht auf dem Boden lagen.
»Das spielt keine Rolle«, antwortete sie schließlich. »Fragen Sie sich lieber, wo das Buch abgeblieben ist.«
»Welches Buch?«
Sie sah ihn wieder an, ohne etwas zu erwidern, während er sich unglaublich dumm vorkam.
»Du weißt zuviel«, sagte er zu ihr. »Sogar mehr als ich.«
Sie zuckte erneut mit den Achseln und betrachtete Corsos Armbanduhr, als wolle sie wissen, wie spät es sei.
»Sie haben nicht viel Zeit.«
»Es interessiert mich einen Dreck, wieviel Zeit ich habe.«
»Wie Sie meinen. Aber in fünf Stunden geht vom Flughafen Portela eine Maschine nach Paris. Die würden wir gerade noch schaffen.«
Herrgott. Corso standen die Haare zu Berge. Dieses Mädchen gebärdete sich wie eine Chefsekretärin, die ihm seinen Terminkalender vorhielt.
Jung und mit diesen aufregenden grünen Augen . Ver-dammte kleine Hexe.
»Warum sollte ich mich davonmachen?«
»Weil die Polizei kommen könnte.«
»Ich habe nichts zu verbergen.«
Das Mädchen setzte ein undefinierbares Lächeln auf - als habe sie einen uralten Witz gehört. Dann packte sie ihren Rucksack und hob die Hand zum Gruß.
»Ich bringe Ihnen Zigaretten ins Gefängnis. Allerdings gibt es Ihre Marke in Portugal nicht zu kaufen.«
Sie trat in den Garten hinaus, ohne auch nur einen letzten Blick durch das Zimmer geschickt zu haben. Corso war drauf und dran, ihr nachzugehen, um sie zurückzuhalten. Da sah er, was im Kamin lag.
Nach dem ersten Schreck näherte er sich langsam. Vielleicht wollte er den Ereignissen noch einmal die Chance geben, von selbst in Ordnung zu kommen. Am Kaminsims lehnend, mußte er jedoch feststellen, daß einige dieser Vorfälle bereits irreversibel waren. Die Bibliographien seltener Bücher zum Beispiel waren über Nacht veraltet, in einer Zeitspanne also, die im Vergleich zu ihren ganze Jahrhunderte umfassenden Inhalten geradezu lächerlich erschien. Von den Neun Pforten gab es nun nicht mehr drei, sondern nur noch zwei Exemplare. Das dritte, oder besser das, was von ihm noch übrig war, schwelte unter der Asche vor sich hin.
Er kniete nieder, wobei er achtgab, nichts zu berühren. Die Buchdeckel hatten, wahrscheinlich aufgrund des Ledereinbandes, weniger Schaden gelitten als die Seiten. Zwei der fünf Bünde auf dem Rücken waren unversehrt, und das Pentagramm nur halb verbrannt. Die Buchseiten dagegen waren bis auf ein paar versengte Ränder mit einzelnen Wortfragmenten völlig verkohlt. Corso näherte seine Hand den Resten: Sie waren immer noch heiß. Er zog eine Zigarette aus der Manteltasche und hängte sie sich in den Mundwinkel, ohne sie anzuzünden. Am Abend zuvor hatte er den Holzstoß im Kamin gesehen. Aus der Art, wie die Brandrückstände verteilt waren - das eingeäscherte Holz unten und die verkohlten Blätter darüber, als habe niemand das Feuer geschürt - schloß er, daß das Buch auf die brennenden Scheite gelegt worden war. Er erinnerte sich, Brennholz für vier bis fünf Stunden gesehen zu haben, und die verbleibende Wärme verriet, daß das Feuer vor etwa ebenso vielen Stunden erloschen war. Zusammengerechnet ergab das acht bis zehn Stunden. Es mußte also jemand zwischen zehn Uhr und Mitternacht das Feuer entfacht und dann das Buch darauf gelegt haben. Jemand, der nicht lange genug geblieben war, um die Glut zu schüren.
Corso fischte aus dem Kamin, was von dem Buch noch zu retten war, und wickelte es in eine alte Zeitung. Dazu brauchte er ziemlich lange, denn die verkohlten Blätter waren spröde und brüchig, so daß er sehr behutsam vorgehen mußte. Dabei fiel ihm auf, daß die Seiten aus dem Buch ausgerissen und getrennt vom Deckel in den Kamin geworfen worden waren, wahrscheinlich, weil sie so besser brannten.
Als er mit seiner Bergungsaktion fertig war, sah er sich ein wenig in dem Zimmer um. Der Vergil und der Agricola lagen unverrückt an ihren Plätzen: das De re metallica ordentlich in seiner Reihe auf dem Teppich, der Vergil auf dem Tisch, auf den der Bibliophile ihn am gestrigen Abend gelegt hatte, als er, einem Priester gleich, die Opferformel ausgesprochen hatte: »Ich glaube, ich verkaufe das hier ...« Zwischen den Seiten des Buches spickte ein Zettel vor, den Corso herauszog und las. Es handelte sich um eine handgeschriebene Quittung:
Victor Coutinho Fargas, Personalausweis-Nr. 3554712, wohnhaft in Sintra, Quinta da Soledade, an der Straße nach Colares, Km 4.
Hiermit bestätige ich den Erhalt von 800 000 Escudos für den Verkauf nachstehend bezeichneten Werkes aus meinem Besitz: »Vergil: Opera nunc recens accuratissime castigata ...«, Venedig, Giunta, 1544. (Esslingol. Sander 7671). In Folio 10, 587, 1 c, 113 Holzschnitte. Vollständig und in gutem Zustand. Der Käufer ...
Er fand weder Namen noch Unterschrift - der Verkauf war also nicht vollzogen worden. Corso steckte die Quittung in das Buch zurück und begab sich in das Zimmer, in dem er am Vorabend gearbeitet hatte, um sicherzugehen, daß er dort keine Spuren hinterließ, Zettel mit seiner Schrift oder ähnliches. Er leerte den Aschenbecher, wickelte seine Zigarettenstummel in ein Stück Zeitungspapier und verstaute sie in der Manteltasche. Dann sah er sich auch sonst noch ein bißchen um. Seine Schritte hallten in dem leeren Haus. Von dem Besitzer keine Spur.
Als er noch einmal an den Büchern vorbeikam, die auf dem Boden gestapelt waren, widerstand er instinktiv der Versuchung. Dabei hätte er leichtes Spiel gehabt: Ein paar seltene Elzevierausgaben, in kleinem Format, einfach zu verstecken, lockten ihn sehr - aber Corso war ein besonnener Mensch. Diese Geschichte war schon verwickelt genug, und er wollte seine Lage nicht noch erschweren. Also verabschiedete er sich mit einem innerlichen Seufzer von der Sammlung Fargas.
Er trat durch die Glastür in den Garten hinaus und stapfte durch das raschelnde Laub, während er Ausschau nach dem Mädchen hielt. Sie saß auf einer kleinen Treppe am Rand des Teiches, lauschte dem Plätschern des Wassers, das aus dem Mund des pausbäckigen Puttchens träufelte, und starrte gedankenverloren auf die grünliche, mit Seerosen und Laub bedeckte Wasseroberfläche. Als sie das Geräusch seiner Schritte vernahm, erwachte sie aus ihrer Versunkenheit und wandte den Kopf.
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