Corso schnippte sich ein unsichtbares Staubkorn von der Hose. Das war nicht seine Sache. Jedenfalls nicht, was die praktische Seite betraf.
»Ich möchte weg sein, wenn es passiert.«
»Sei unbesorgt. Du bekommst das Buch, und Senor Fargas soll so wenig wie möglich in seiner Ruhe gestört werden. Eine kaputte Fensterscheibe, wenn’s hochkommt: Ich bestehe auf sauberer Arbeit. Was das Honorar betrifft .«
Corso deutete auf den Umschlag, den der Polizist ungeöffnet in der Hand hielt.
»Da ist ein Vorschuß drin«, sagte er, »ein Viertel der Gesamtsumme. Den Rest bei Ablieferung.«
»Kein Problem. Wann fährst du ab?«
»Morgen früh. Ich setze mich von Paris aus mit dir in Verbindung.« Pinto wollte gehen, aber Corso hielt ihn noch zurück. »Noch etwas. Heute nacht hat sich hier ein Typ herumgetrieben, den ich gerne identifiziert hätte: einen Meter achtzig groß, mit Schnurrbart und Narbe im Gesicht. Schwarzes Haar, dunkle Augen. Schlank. Er ist weder Spanier noch Portugiese.«
»Gefährlich?«
»Das weiß ich nicht. Er ist mir aus Madrid gefolgt.«
Der Polizist machte sich ein paar Notizen auf der Rückseite des Umschlags.
»Hat er etwas mit unserem Geschäft zu tun?«
»Das nehme ich an. Aber Genaueres kann ich dir nicht sagen.«
»Mal sehen, was sich da machen läßt. Ich habe Freunde im Kommissariat von Sintra. Und dann kann ich in unserer Zentrale in Lissabon einen Blick in die Archive werfen.«
Er hatte sich erhoben und verstaute den Umschlag in der Innentasche seiner Jacke. Corso nahm flüchtig einen Pistolenschaft und ein Halfter wahr.
»Bleibst du noch auf ein Glas?«
Pinto schüttelte seufzend den Kopf.
»Das würde ich gerne, aber ich habe drei Kinder mit Masern daheim. Die stecken sich gegenseitig an, diese Bälger.«
Er lächelte, während er das sagte, aber etwas müde. In Corsos Welt waren alle Helden müde.
Sie gingen gemeinsam zum Eingang des Hotels, vor dem Pinto seinen alten Citroen 2 CV geparkt hatte. Als sie sich die Hände schüttelten, kam Corso noch einmal auf das Thema Victor Fargas zurück.
»Mir liegt viel daran, daß die Störung auf ein Minimum beschränkt wird ... Ein simpler Diebstahl, nicht mehr.«
Der Polizist startete den Motor, machte die Scheinwerfer an und warf ihm durch das offene Wagenfenster einen vorwurfsvollen Blick zu. Er schien ernsthaft beleidigt.
»Ich bitte dich. Solche Kommentare sind überflüssig - unter Profis.«
Nachdem er den Polizisten verabschiedet hatte, stieg Corso in sein Zimmer hinauf, um noch einmal seine Notizen durchzusehen. Er arbeitete bis spät in die Nacht, das Bett war mit Blättern übersät, die Neun Pforten lagen aufgeschlagen auf dem Kopfkissen. Schließlich war er so erschöpft, daß er beschloß, zur Entspannung heiß zu duschen und dann ins Bett zu gehen. Er war auf dem Weg ins Bad, da läutete das Telefon: Varo Borja, der wissen wollte, was der Besuch bei Fargas gebracht hatte. Der Bücherjäger erzählte ihm kurz das Wichtigste und erwähnte dabei auch die Abweichungen, die er auf fünf der neun Bildtafeln entdeckt hatte.
»Wo wir schon dabei sind«, fügte er noch hinzu: »Unser Freund ist nicht gewillt zu verkaufen.«
Am andern Ende der Leitung trat Schweigen ein. Der Antiquar schien nachzudenken, aber es war nicht zu erraten, worüber: über die Holzschnitte oder über den negativen Bescheid Victor Fargas’. Als er schließlich weitersprach, schlug er einen extrem vorsichtigen Ton an:
»Damit war zu rechnen«, sagte er, und Corso wußte immer noch nicht, worauf er sich genau bezog. »Gibt es irgendeinen Weg, diese Schwierigkeit zu umgehen?«
»Möglicherweise.«
Das Telefon verstummte erneut. Fünf Sekunden zählte Corso auf dem Zifferblatt seiner Uhr mit.
»Die Sache ist Ihnen überlassen.«
Damit war ihr Gespräch auch fast schon zu Ende. Corso sagte nichts von seiner Begegnung mit Pinto, und der Antiquar fragte nicht, wie Corso das Problem zu lösen gedachte. Varo Borja wollte lediglich wissen, ob er mehr Geld brauchte, und die Antwort war nein. Schließlich vereinbarten sie, Corso solle zurückrufen, sobald er in Paris war.
Der Bücherjäger beschloß, es noch einmal bei La Ponte zu versuchen, aber wieder meldete sich niemand. Er räumte seine Notizen zusammen, klappte das schwarzgebundene Buch mit dem Pentagramm auf dem Deckel zu, nahm den Ordner mit dem Dumas-Manuskript und stopfte alles in seine Segeltuchtasche. Dann legte er die Tasche unters Bett und band sie mit dem Schulterriemen an einem der Pfosten fest. So konnte sie niemand stehlen, ohne ihn aufzuwecken. Ungemütliches Reisegepäck, dachte er bei sich, während er im Bad den heißen Wasserhahn aufdrehte - und aus unerfindlichen Gründen obendrein gefährlich.
Er putzte die Zähne und begann sich auszuziehen, um sich unter die Dusche zu stellen. Der Spiegel war mit Dampf beschlagen, aber er konnte sich noch erkennen. Mager und knochig wie ein abgezehrter Wolf, dachte Corso, als er seine Kleider auf den Boden fallen ließ. Und dann war es auf einmal wieder da, dieses Gefühl der Beklommenheit, das sich aus der Vergangenheit löste, wie eine Woge von fern heranrollte und sein Bewußtsein mit Schmerz überschwemmte - als werde in seinem Gedächtnis, in seinem Fleisch, plötzlich eine Saite angeschlagen. Nikon. Noch heute mußte er jedesmal, wenn er den Gürtel öffnete, an sie denken - früher durfte nur sie das machen, als gehe es um ein seltsames Ritual. Er schloß die Augen und sah Nikon wieder vor sich, wie sie auf der Bettkante saß und ihm mit einem zärtlichen, genußvollen Lächeln zuerst die Hose und dann den Slip über die Hüften streifte, langsam, sehr langsam. Entspann dich, Lucas Corso. Einmal hatte sie ihn heimlich fotografiert, während er schlief: das Gesicht nach unten, die Stirn von einer vertikalen Falte durchzogen. Dunkle Bartstoppeln überschatteten seine Wangen und ließen sie noch eingefallener erscheinen, und um die Winkel seines halb geöffneten Mundes spielte ein bitterer Zug. Er sah aus wie ein erschöpfter, ängstlicher und gequälter Wolf inmitten der verschneiten Einöde seines weißen Kissens. Ihm hatte es überhaupt nicht gefallen, dieses Foto, als er es zufällig in der Fixiermittelwanne im Bad entdeckte, das Nikon als Labor benützte. Er hatte es zusammen mit dem Negativ in kleine Stücke zerrissen, und sie hatte nie ein Wort darüber verloren.
Corso stellte sich unter die Dusche und ließ das siedendheiße Wasser über sein Gesicht strömen, obwohl es ihm die Augenlider verbrannte. Mit angespannten Muskeln und zusammengepreßten Zähnen hielt er dem Schmerz stand und stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Versuchung, wie ein wildes Tier zu heulen und seine Einsamkeit in den Dampf hinauszuschreien, der ihn beinahe erstickte. Über einen Zeitraum von vier Jahren, einem Monat und zwölf Tagen hinweg war Nikon jedesmal, wenn sie sich geliebt hatten, hinter ihm in die Dusche getreten und hatte ihm den Rücken eingeseift, unendlich langsam. Und oft hatte sie sich am Ende an ihn geschmiegt wie ein verirrtes Kind im Regen. Eines Tages gehe ich, als hätten wir uns nie kennengelernt. Dann wirst du dich an meine großen, dunklen Augen erinnern. An meine stummen Vorwürfe. Mein Angststöhnen im Schlaf. Meine Alpträume, die du mir nicht nehmen konntest. An all das wirst du dich erinnern, wenn ich gegangen bin.
Er lehnte den Kopf an die weißen Kacheln, dampftriefend in dieser feuchten Wüste, die ihn so sehr an einen Kreis der Hölle erinnerte. Kein Mensch außer Nikon hatte ihm je den Rücken eingeseift. Weder vorher noch nachher. Niemand. Niemals.
Corso ging ins Zimmer zurück und legte sich mit dem Memorial von St. Helena ins Bett, aber er schaffte es kaum, zwei Zeilen zu lesen:
Und indem er wieder auf den Krieg zu sprechen kam, fuhr der Kaiser fort: »Die Spanier verhielten sich selbst in der Masse wie Ehrenmänner ...«
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