Er schnitt eine Grimasse angesichts des zweihundert Jahre alten napoleonischen Lobliedes und dachte an einen Satz, den er als Kind einmal gehört hatte von einem seiner Großväter oder von seinem Vater: »Es gibt nur einen Ort, wo wir Spanier eine gute Figur abgeben: auf den Bildern Goyas.« Ehrenmänner, hatte Bonaparte gesagt. Corso dachte an Varo Borja und sein Scheckheft, an Flavio La Ponte und die zu vier Vierteln geplünderten Bibliotheken argloser Witwen. An das Gespenst Nikons, das in der Einöde einer weißen Wüste umherwandelte. An sich selbst: ein Jagdhund, der sich in den Dienst des Meistbietenden stellte. Nein, jetzt haben wir andere Zeiten. Mit einem verzweifelten, bitteren Lächeln auf dem Mund schlief er endlich ein.
Das erste, was er beim Aufwachen sah, war das graue Licht der Morgendämmerung vor dem Fenster. Zu früh. Er drehte sich um, tastete nach der Armbanduhr auf dem Nachttisch, und erst da wurde ihm klar, daß das Telefon läutete. Der Hörer fiel zweimal auf den Boden, bevor er es schaffte, ihn zwischen sein Ohr und das Kissen zu klemmen.
»Ja bitte?«
»Hier ist Ihre Freundin von gestern. Erinnern Sie sich? Irene Adler. Ich bin unten, in der Hotelhalle. Wir müssen miteinander sprechen. Und zwar sofort.«
»Was zum Teufel ...?«:
Aber sie hatte schon wieder eingehängt. Corso setzte sich fluchend die Brille auf, schlug das Leintuch zurück und stieg verschlafen in seine Hose. Dann blickte er von plötzlicher Panik gepackt unters Bett: Die Tasche lag immer noch dort. Unter großer Anstrengung gelang es ihm, die Gegenstände aus seiner Umgebung ins Auge zu fassen. Hier im Zimmer war alles in Ordnung - demnach konnte also nur draußen etwas passiert sein. Er schaffte es gerade, ins Bad zu gehen und sich das Gesicht zu waschen, da klopfte es an der Tür.
»Wissen Sie verdammt noch mal, wie spät es ist?«
Das Mädchen stand in seinem Kapuzenmantel und mit geschultertem Rucksack im Türrahmen. Ihre Augen waren noch grüner, als Corso sie in Erinnerung hatte.
»Es ist halb sieben«, gab sie völlig gelassen zur Antwort. »Und Sie müssen sich so schnell wie möglich anziehen.«
»Sind Sie verrückt geworden?«
»Nein.« Sie war inzwischen ohne Aufforderung eingetreten und sah sich kritisch in seinem Zimmer um. »Wir haben nicht viel Zeit.«
»Wir?«
»Sie und ich. Die Lage hat sich kompliziert.«
Corso schnaubte ärgerlich.
»Hätten Sie sich nicht eine andere Uhrzeit aussuchen können, um mich zu verarschen?«
»Reden Sie keinen Unsinn.« Sie rümpfte die Nase und sah ihn streng an. Trotz ihres jungen Alters und ihres burschikosen Aussehens wirkte sie jetzt sehr reif und selbstbewußt. »Ich meine es ernst.«
Corso griff sich den Rucksack, den sie auf das ungemachte Bett gelegt hatte, drückte ihn ihr in die Hand und wies auf die Tür.
»Scheren Sie sich zum Teufel.«
Das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck und beschränkte sich darauf, ihn aufmerksam anzusehen.
»Hören Sie ...« Die hellen Augen waren jetzt ganz nahe, sie strahlten wie zwei Leuchtkristalle aus ihrem sonnenverbrannten Gesicht. »Sie kennen doch Victor Fargas, nicht?«
Corso sah sich über ihre Schulter hinweg im Spiegel des Frisiertischs. Er hatte den Mund aufgesperrt und glotzte wie ein Vollidiot.
»Klar kenne ich den«, kam es ihm endlich über die Lippen.
Er hatte mehrere Sekunden gebraucht, um reagieren zu können, und blinzelte noch immer verdutzt. Sie ließ ihm Zeit, sich zu erholen, und verriet keinerlei Genugtuung über die Wirkung, die sie mit ihren Worten erzielt hatte. Offensichtlich war sie mit ihren Gedanken woanders.
»Er ist tot«, sagte sie.
Ihre Stimme klang normal, genausogut hätte sie sagen können: »Er hat Kaffee zum Frühstück getrunken« oder »ist zum Zahnarzt gegangen«. Corso atmete einmal tief durch und schluckte.
»Ausgeschlossen. Ich war gestern abend bei ihm. Und es ging ihm gut.«
»Jetzt geht es ihm aber nicht gut. Jetzt geht es ihm überhaupt nicht mehr.« »Woher wissen Sie das?«
»Das weiß ich eben.«
Corso schüttelte argwöhnisch den Kopf und machte sich auf die Suche nach einer Zigarette, dabei stieß er auf seinen Flachmann und nahm einen Schluck Gin. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken, aber das kam vom leeren Magen. Danach trödelte er ein wenig, um Zeit zu gewinnen, und zwang sich, das Mädchen nicht anzusehen, bis er den ersten Zug von seiner Zigarette genommen hatte. Die Rolle gefiel ihm nicht, die er an diesem Morgen zu spielen hatte. Und er brauchte Zeit, um das alles zu verdauen.
»Im Café in Madrid ... im Zug ... gestern abend und heute morgen hier, in Sintra«, zählte er mit dem Zeigefinger an den Fingerspitzen der linken Hand ab und verdrehte die Augen, weil ihn der Rauch der Zigarette reizte, die in seinem Mundwinkel hing. »Vier Zufälle sind ein bißchen viel, finden Sie nicht?«
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf.
»Ich habe Sie für schlauer gehalten. Wer spricht denn von Zufällen?«
»Warum folgen Sie mir?«
»Weil Sie mir gefallen.«
Corso war die Lust zum Lachen vergangen, er verzog nur ein wenig den Mund.
»Das ist ja lächerlich.«
Sie betrachtete ihn lange und nachdenklich.
»Zu diesem Schluß könnte man allerdings kommen, wenn man Sie so sieht«, sagte sie schließlich. »Ein toller Mann sind Sie nicht gerade ... ständig mit diesem alten Mantel. Und der Brille.«
»Also, was dann?«
»Fragen Sie sich selbst, aber jetzt ziehen Sie sich endlich an. Wir müssen zu Victor Fargas.«
»Wir?«
»Ja, Sie und ich. Bevor die Polizei kommt.«
Vermodertes Laub raschelte unter ihren Füßen, als sie das schmiedeeiserne Gartentor aufstießen und den von kaputten Statuen und leeren Sockeln gesäumten Weg hinaufgingen. Der Himmel war verhangen, und das bleifarbene Morgenlicht warf keine Schatten, so daß die Sonnenuhr über der Steintreppe ihren Zweck auch jetzt nicht erfüllen konnte. Postuma necat. Die letzte tötet, las Corso erneut. Das Mädchen war seinem Blick gefolgt.
»Wie wahr«, stellte sie in kühlem Ton fest und stemmte sich gegen die Haustür. Sie war verschlossen.
»Versuchen wir es von hinten«, schlug Corso vor.
Sie machten einen Bogen um das Haus und kamen unterwegs an dem gekachelten Brunnen vorbei, wo aus dem Mund des steinernen Puttchens mit den leeren Augenhöhlen und den verstümmelten Händen immer noch Wasser in den Teich tröpfelte. Das junge Mädchen, Irene Adler oder wie immer es auch hieß, ging in seinem blauen Kapuzenmantel, den kleinen Rucksack geschultert, vor Corso her. Ihre biegsamen, langen Beine in den Jeans stapften mit überraschender Sicherheit voran, der Kopf war stur nach vorn gerichtet, als kenne sie den Weg. Sie wirkte ruhig und entschlossen. Corso war ganz anderer Gemütsverfassung, aber er verdrängte seine Zweifel, verschob Fragen auf später und ließ sich von ihr führen. Im Hotel hatte er noch rasch geduscht, um wach zu werden, seine Siebensachen in die Segeltuchtasche geworfen. Im Augenblick dachte er an nichts anderes als an die Neun Pforten, das Exemplar Nummer zwei von Victor Fargas.
Durch die Glastür, die auf den Garten hinausging, gelangten sie mühelos in den Salon, von dessen Decke herab Abraham mit gezücktem Messer die über den Boden verteilten Bücher bewachte. Das Haus schien verlassen.
»Wo ist Fargas?« fragte Corso.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
»Keine blasse Ahnung.«
»Sie sagten doch, er sei tot.«
»Das ist er auch.« Sie griff nach der Violine, die auf der Kredenz lag, und untersuchte sie interessiert, dann ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen, über die kahlen Wände und die Bücher. »Ich weiß nur nicht, wo er ist.«
»Sie halten mich zum Narren.«
Das Mädchen hatte sich die Geige unters Kinn geklemmt und zupfte ein wenig ihre Saiten, aber ihr Klang schien sie nicht zufriedenzustellen, und so legte sie das Instrument gleich wieder in seinen Kasten zurück. Dann sah sie Corso an.
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