Das Mädchen erwartete ihn in der Abflughalle. Zur großen Verwunderung Corsos, dessen graue Gehirnzellen an diesem Morgen einfach nicht auf Trab kommen wollten, hatte sie bereits alles in die Wege geleitet, um sie beide an Bord der Maschine nach Paris unterzubringen, was auch ohne weitere Zwischenfälle gelang. »Ich habe soeben geerbt«, war ihr einziger Kommentar, als Corso ein paar bissige Bemerkungen vom Stapel ließ - von wegen: Tut so arm, und dann ... -, weil sie nicht ein, sondern gleich zwei Tickets am Schalter bezahlt hatte. Später, während des zweistündigen Fluges von Lissabon nach Paris, konnte er dann Fragen stellen, soviel er wollte - sie verweigerte ihm jegliche Antwort. »Alles zu seiner Zeit«, sagte sie nur und warf ihm einen flüchtigen, beinahe verstohlenen Blick von der Seite zu, um sich dann in den Anblick des Wolkenmeeres zu versenken, draußen, vor dem Fenster, weit unterhalb des Kondensstreifens, den die Düsen am Himmel erzeugten. Schließlich war sie, den Kopf an seine Schulter gelehnt, eingeschlafen oder hatte mindestens so getan, denn Corso glaubte, aus dem Rhythmus ihrer Atmung schließen zu können, daß sie in Wahrheit wach war. Sicher stellte sie sich nur schlafend, um seinen Fragen auszuweichen, die sie nicht bereit oder nicht »autorisiert« war, zu beantworten.
An diesem Punkt hätte wohl jeder andere seine Sachen gepackt und die Tür hinter sich zugeknallt. Nicht so Corso. Er war ein geduldiger und kaltblütiger Wolf und besaß die Reflexe und den Instinkt eines Raubtieres. Vergessen wir nicht, daß dieses Mädchen das einzige war, was ihn in der romanhaften, unerklärlichen und irrealen Geschichte, in die er da hineingeraten war, noch mit der Wirklichkeit verband. Und abgesehen davon identifizierte Corso sich längst mit der Rolle des anspruchsvollen Lesers und Protagonisten, den der Verfasser dieses absurden Drehbuchs, der Autor, der hinter den Kulissen die Fäden zog, mit einem Augenzwinkern zu begleiten schien. Ob dieses Augenzwinkern freilich verächtlich oder freundschaftlich gemeint war, das konnte er nicht erraten.
»Ich habe das Gefühl, hier will mich jemand verarschen«, sagte er laut, in neuntausend Meter Höhe über dem Golf von Biskaya. Dann schielte er in Erwartung einer Reaktion oder Antwort zu dem Mädchen hinüber, aber sie rührte sich nicht und atmete ruhig weiter, als schliefe sie tatsächlich oder habe seine Bemerkung überhört. Über ihr Schweigen verärgert, zog er seine Schulter zurück: Ihr Kopf pendelte einen Augenblick im Leeren, dann legte sie ihn mit einem Seufzer ans Fenster.
»Klar will dich jemand verarschen«, sagte sie endlich, schlaftrunken und abfällig, ohne die Augen zu öffnen. »Das merkt ja das dümmste Kind.«
»Was ist mit Fargas passiert?«
Sie antwortete nicht gleich. Corso stellte aus den Augenwinkeln fest, daß sie blinzelte, während ihr Blick an der Rückenlehne des Sitzes vor ihr hing.
»Das hast du doch gesehen«, erwiderte sie nach einer Weile. »Er ist ertrunken.«
»Wer hat da nachgeholfen?«
Sie drehte langsam den Kopf, erst zur einen, dann zur anderen Seite, um schließlich aus dem Fenster zu blinzeln. Ihre zierliche, braune Hand mit den kurzen, unlackierten Nägeln glitt sacht über die linke Armlehne, an deren Ende sie innehielt, als wären ihre Finger gegen einen unsichtbaren Gegenstand gestoßen.
»Das spielt keine Rolle.«
Corso verzog den Mund wie zu einem Lächeln, aber er entblößte nur einen Eckzahn.
»Für mich spielt das schon eine Rolle. Eine sehr große sogar.«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern, als wolle sie sagen: Meinetwegen.
Corso ließ nicht locker:
»Welchen Part hast du in dieser Geschichte?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich passe auf dich auf.«
Sie hatte sich umgedreht, und ihre Augen, die noch vor wenigen Sekunden ausgewichen waren, sahen ihn jetzt fest und eindringlich an. Ihre Hand fuhr erneut über die Armlehne, als versuche sie mit dieser Bewegung, das letzte Hindernis zwischen beiden wegzuschieben. Und sie waren sich tatsächlich sehr nahe gekommen, zu nahe, dachte Corso verwirrt und zog sich instinktiv ein wenig zurück. In dem Loch, das Nikon hinterlassen hatte, begann sich etwas zu regen, dunkle Gefühle, die er längst vergessen zu haben glaubte, und aus der Leere stiegen schmerzliche Erinnerungen empor, die sich Gespenstern gleich in den stummen Augen des Mädchens spiegelten.
»Für wen arbeitest du?«
Die Wimpern senkten sich über die schillernde Iris und wischten alles fort. Danach glichen ihre Augen wieder leeren, unbeschriebenen Blättern.
»Du langweilst mich, Corso«, sagte sie und rümpfte mißmutig die Nase.
Er beugte sich zum Flugzeugfenster hinüber und sah hinaus. Die weite, azurblaue Fläche, die hauchdünne weiße Fäden durchzogen, schien in der Ferne von einer braungelben Linie unterbrochen zu werden. Land in Sicht. Frankreich. Nächster Halt: Paris. Oder: Fortsetzung folgt. Dieses Kapitel endete mit einem Geheimnis. Nur die Spannung halten. Er dachte an die Quinta da Soledade: das Wasser, das aus dem Brunnen tröpfelte, den Teich, die Leiche Victor Fargas’ zwischen Seerosen und gefallenem Laub, und dabei wurde ihm so heiß, daß er nervös auf seinem Sitz herumrutschte. Er fühlte sich wie ein Mann auf der Flucht, und das mit Recht . So absurd es auch war, denn er floh nicht aus eigenem Willen, sondern weil er dazu gezwungen wurde.
Corso betrachtete das Mädchen, bevor er versuchte, einen kühlen Blick in sein Inneres zu werfen. Vielleicht floh er ja gar nicht »vor« etwas, sondern »zu« etwas. Oder vor einem Mysterium, das in seinem eigenen Gepäck versteckt war. Le vin d’Anjou? Die Neun Pforten? Irene Adler? In diesem Moment kam die Stewardeß an ihm vorbei. Sie hatte ein stupides, professionelles Lächeln und sagte etwas, aber Corso war so in seine Grübeleien vertieft, daß er sie gar nicht richtig wahrnahm. Er hätte zu gerne gewußt, ob das Ende dieser Geschichte schon irgendwo aufgeschrieben stand oder ob er selbst es war, der nach und nach ein Kapitel zum anderen fügte.
An diesem Tag wechselte er kein einziges Wort mehr mit dem Mädchen. Nach ihrer Ankunft auf dem Flughafen Orly tat er so, als merke er nicht, daß sie in den langen Korridoren hinter ihm herging. Als der Beamte von der Zollkontrolle ihm seinen Personalausweis zurückgab, konnte er allerdings der Versuchung nicht widerstehen, sich halb umzudrehen, um zu sehen, mit welchen Papieren sie reiste, aber er erkannte lediglich ein schwarzes Paßetui ohne Aufdruck. Auf alle Fälle mußte es sich um einen europäischen Paß handeln, denn sie hatte wie er den Checkpoint für EU-Bürger passiert.
Corso verließ das Flughafengebäude und bestieg sofort ein Taxi. Er war gerade dabei, dem Fahrer wie gewohnt die Adresse des Louvre Concorde anzugeben, da schlüpfte das Mädchen zur Tür herein und setzte sich neben ihn. Unterwegs zum Hotel schwiegen sie, und dort angekommen, stieg das Mädchen aus und ließ ihn die Fahrt bezahlen. Der Taxichauffeur hatte kein Wechselgeld, was die Sache ein wenig hinauszögerte. Als Corso endlich die Hotelhalle betrat, hatte sie sich bereits eingetragen und entfernte sich in Begleitung eines Pagen, der ihren Rucksack trug. Bevor sie im Aufzug verschwand, winkte sie ihm einmal kurz zu.
»Ein sehr schöner Laden. >Antiquariat Replinger< nennt er sich. >Originalhandschriften und historische Urkunden<. Er ist übrigens geöffnet.«
Sie hatte dem Kellner abgewinkt und beugte sich in dem Straßencafe in der Rue de Buci über den Tisch zu Corso hinüber. Ihre schillernden Augen reflektierten das Straßenbild, das sich in der breiten Glasfront des Lokals spiegelte.
»Wir können gleich hingehen.«
Sie hatten sich beim Frühstück wiedergetroffen, als Corso an einem der Fenster, die auf die Place du Palais-Royal hinausgingen, die Tageszeitungen durchblätterte. Das Mädchen hatte guten Tag gesagt, sich zu ihm an den Tisch gesetzt und mit großem Appetit ein ganzes Körbchen mit Toasts und Croissants verzehrt. Daraufhatte sie Corso, mit einem schmalen Streifen Milchkaffee auf der Oberlippe und zufrieden wie ein kleines Kind, angesehen:
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