»Da haben Sie den Beweis: Das ist einer der Briefe, den er Maquet geschrieben hat, während sie an der Königin Margot arbeiteten. Wie Sie sehen, beklagt sich Dumas ein wenig: Es läuft alles wie am Schnürchen, abgesehen von sechs oder sieben Seiten über das politische Zeitgeschehen, mit denen ich mich ein bißchen schwertue ... Und wenn wir nicht schneller vorwärtskommen, Heber Freund, so ist das Ihre Schuld: Seit gestern abend um neun drehe ich Däumchen.«
Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, und zeigte auf den Vin d’Anjou.
»Bei den vier weißen Blättern mit der Handschrift Maquets und den Anmerkungen von Dumas handelt es sich bestimmt um eine Lieferung in letzter Minute, kurz vor Redaktionsschluß der Zeitung Le Siècle, und so konnte Dumas nur einige von ihnen ganz neu schreiben, während er sich bei den anderen mit hastigen Korrekturen im Originaltext begnügen mußte.«
Der Antiquar begann die Dokumente in ihre Mappen zurückzustecken, um sie wieder in das Archiv mit dem Buchstaben »D« einzuräumen, und Corso hatte Gelegenheit, einen letzten Blick auf die Notiz zu werfen, in der Dumas von seinem Mitarbeiter Nachschub forderte. Offensichtlich hatte er dafür ein Blatt auseinandergerissen, denn der untere Rand war etwas ausgefranst. Das Papier selbst - blaßblau und fein kariert - und die Handschrift waren völlig identisch mit denen des Manuskripts. Gut möglich, daß alle diese Blätter zu ein und demselben Ries gehörten, das der Romancier auf seinem Schreibtisch hatte.
»Von wem sind die Drei Musketiere denn nun wirklich geschrieben worden?«
Replinger, der damit beschäftigt war, die Kartothek wieder zu schließen, zögerte einen Augenblick.
»So genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen. Ihre Frage ist zu kategorisch«, erwiderte er schließlich. »Maquet war ein gebildeter Mann, der sich gut in der Geschichte auskannte und sehr viel las, aber ein Genie wie Dumas war er nicht.«
»Haben sie sich zum Schluß nicht in die Haare gekriegt?«
»Doch. Jammerschade . Wissen Sie, daß die beiden anläßlich der Hochzeit von Elisabeth II. zusammen in Spanien waren? Dumas hat sogar einen Briefroman in Fortsetzungen über diese Reise veröffentlicht: Von Paris nach Cädiz. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Die Beziehung endete, als Maquet vor Gericht ging, weil er als Autor von achtzehn der Romane Dumas’ anerkannt werden wollte. Die Richter waren allerdings der Ansicht, er habe nur vorbereitende Arbeiten geleistet . Heute hält man ihn für einen mittelmäßigen Schriftsteller, der den Ruhm eines anderen benützte, um Geld zu verdienen. Obwohl es natürlich auch Leute gibt, die meinen, er sei von Dumas ausgebeutet worden: der >Neger< des Giganten .«
»Und was meinen Sie?«
Replinger warf einen verstohlenen Blick auf das DumasPorträt über seiner Ladentür.
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich kein Experte bin, wie etwa mein Freund, Senor Balkan. Ich bin nur ein einfacher Buchhändler, ein Antiquar.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht und schien im Geiste abzuwägen, bis zu welchem Grade sein Beruf mit seinen persönlichen Vorlieben zu vereinbaren war. »Aber ich möchte Sie auf etwas hinweisen: zwischen 1870 und 1894 sind in Frankreich drei Millionen Bücher und acht Millionen Fortsetzungsromane erschienen, alle unter dem Namen Alexandre Dumas’. Werke die vor, während und nach Maquet verfaßt worden sind. Wenn das nichts bedeutet!«
»Auf alle Fälle bedeutet es Ruhm zu Lebzeiten«, erwiderte Corso.
»Das steht außer Frage. Ein halbes Jahrhundert lang wurde Dumas in Europa wie ein Gott verehrt. Man las ihn von Kairo bis Moskau, von Istanbul bis Chandigarh. Aus beiden Teilen des amerikanischen Kontinents kamen Dampfer, die vollbeladen mit seinen Büchern zurückkehrten. Dumas hat seine Popularität ausgenützt und das Leben mit allem, was es zu bieten hat, bis zum letzten ausgekostet. Er hat gepraßt und gefeiert, er ist auf die Barrikaden geklettert, er hat sich duelliert und Prozesse geführt, Schiffe befrachtet und aus seiner eigenen Tasche Pensionen verteilt, er hat geliebt, geschlemmt, getanzt, er hat zehn Millionen verdient und zwanzig verschleudert, und zum Schluß ist er sanft wie ein Kind entschlummert ...« Replinger wies mit dem Finger auf die korrigierten weißen Blätter Maquets. »Nennen Sie es, wie Sie wollen: Talent, Genie . Aber was man hier nicht drin hat«, er klopfte sich wie Porthos auf die Brust, »das kann man auch bei anderen nicht abgucken oder improvisieren. Es gibt keinen Schriftsteller, der zu Lebzeiten ruhmreicher war als er. Dumas hat mit nichts angefangen und alles erreicht, was es überhaupt zu erreichen gibt. Als hätte er mit Gott im Bunde gestanden.«
»Ja«, sagte Corso, »oder mit dem Teufel.«
Corso verließ das Geschäft und begab sich zu dem Antiquariat auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vor der Ladentür waren Holzböcke mit Brettern aufgebaut, auf denen sich im Schutz einer Markise Hunderte von Büchern, alte Drucke und Postkarten stapelten. Das Mädchen kramte darin herum und ließ sich durch seine Ankunft nicht stören. Der feine Flaum in ihrem Nacken und auf den Schläfen flimmerte im Gegenlicht der Sonne.
»Welche würdest du nehmen?« fragte sie ihn und hielt unentschlossen zwei Postkarten vor sich hin. Sie schwankte zwischen einer sepiafarbenen Darstellung von Tristan und Isolde,
die sich umarmten, und Daumiers »Flohmarktbesucher«.
»Kauf doch beide«, schlug Corso vor und beobachtete aus den Augenwinkeln einen Kunden, der an den Tisch herangetreten war und die Hand nach einem Bündel Postkarten ausstreckte. Blitzschnell, wie die Pranke eines Tigers, schoß sein Arm vor und schnappte sich das mit einem Gummi zusammengehaltene Päckchen. Während der Mann schimpfend abzog, machte Corso sich daran, seine Beute zu begutachten, und entdeckte verschiedene interessante Stiche aus dem Umfeld Napoleons: Marie Louise als Kaiserin, die Familie Bonaparte, der Tod des Kaisers und eine Darstellung seines letzten Sieges im Feldzug von 1814: Fin polnischer Lanzenreiter und zwei berittene Husaren schwenkten vor der Kathedrale in Reims Fahnen, die sie dem Feind abgenommen hatten. Nach kurzem Zögern fügte Corso noch Marschall Ney in Galauniform dazu und den betagten Wellington, der für die »Geschichte« posierte. Was für ein Schwein er doch gehabt hatte, der alte Gauner.
Das Mädchen suchte sich auch noch ein paar Postkarten aus. Ihre langen braunen Finger trafen sicher ihre Wahl: zwei Porträts von Robespierre und Saint-Just und ein elegantes Bild von Richelieu im Kardinalsgewand.
»Sehr passend«, bemerkte Corso in ätzendem Ton.
Sie erwiderte nichts und trat statt dessen auf einen Stoß Bücher zu. Die Sonne, die wie ein Goldregen über ihren Rücken floß, blendete Corso so stark, daß er die Augen zusammenkneifen mußte, und als er sie wieder öffnete, hielt das Mädchen ihm einen dicken Wälzer in Quartformat hin, den sie beiseite gelegt hatte.
»Was hältst du davon?«
Er warf einen Blick auf das Buch: Die drei Musketiere mit den Originalillustrationen von Leloir, in Leinen und Leder gebunden, guter Zustand. Als er die Augen wieder hob, stellte er fest, daß das Mädchen lächelte und ihn erwartungsvoll ansah.
»Hübsche Ausgabe«, bemerkte er nur. »Hast du vor, das zu lesen?«
»Klar doch. Verrate mir nicht, wie es ausgeht.«
Corso lachte leise und humorlos vor sich hin.
»Wenn ich das nur könnte«, sagte er, während er das Postkartenbündel an seinen Platz zurücklegte. »Dir verraten, wie es ausgeht.«
»Ich habe ein Geschenk für dich«, verkündete das Mädchen.
Sie spazierten am linken Ufer entlang, dort, wo die Stände der Straßenhändler sind. Auf der Seinebrüstung waren alte Bücher ausgelegt, und an den Buden hingen Plastik- und Cellophanhüllen mit Stichen. Ein Passagierschiff glitt langsam stromaufwärts, nahe daran abzusaufen unter dem Gewicht von etwa fünftausend Japanern, wie Corso schätzte, und ebenso vielen Videokameras. Auf der anderen Straßenseite linsten affektierte Antiquitätenhändler durch die Scheiben ihrer exklusiven Schaufenster mit Visa- und American-Express-Aufklebern und hielten wie beiläufig Ausschau nach einem Kuwaiter, einem russischen Schwarzhändler oder irgendeinem westafrikanischen Regierungsvertreter, dem sie zum Beispiel das Bidet aus handbemaltem Sèvres-Porzellan von Eugénie Grandet andrehen konnten.
Читать дальше