Er ging zu einem mit »D« gekennzeichneten Archiv und zog ein paar Mappen aus elfenbeinfarbener Pappe heraus.
»Das stammt alles von Alexandre Dumas dem Älteren. Die Schrift ist identisch.«
Er breitete etwa ein Dutzend Dokumente vor Corso aus. Einige waren nicht unterschrieben oder nur mit den Initialen »A. D.« versehen, andere dagegen trugen den vollen Namenszug.
Es handelte sich zum größten Teil um kurze Mitteilungen an Verleger, Briefe an Freunde, Einladungen.
»Hier, das ist eins von seinen nordamerikanischen Autogrammen«, erklärte ihm Achille Replinger. »Lincoln hatte ihn um eines gebeten, und Dumas schickte ihm zehn Dollar und gleich hundert Autogramme, die dann auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Pittsburgh verkauft worden sind . « Er zeigte Corso mit offensichtlichem, wenn auch verhaltenem Stolz die Kärtchen. »Und sehen Sie sich das an: eine Einladung zum Abendessen auf das Schloß von Monte Christo, die Residenz, die er sich in Port-Marly hat bauen lassen. Manchmal hat er nur mit seinen Initialen unterschrieben, andere Male mit Pseudonymen . Obwohl nicht alle Handschriften, die von ihm zirkulieren, authentisch sind. Sie wissen doch, daß er Besitzer der Zeitung Le Mousquetaire war, nicht? Nun, dort arbeitete ein gewisser Viellot, der seine Schrift und sein Namenszeichen nachahmen konnte. Und während der letzten drei Jahre seines Lebens zitterten Dumas’ Hände so stark, daß er seine Texte diktieren mußte.«
»Warum blaues Papier?«
»Das bekam er aus Lilie: Ein Drucker, der auch ein großer Anhänger von ihm war, hat es eigens für ihn hergestellt . Fast immer in dieser Farbe, vor allem für die Romane. Für Artikel hat er manchmal rosa Papier verwendet und für Gedichte gelbes. Zum Schreiben hat er, je nach Gattung, eine andere Feder benutzt. Und er haßte blaue Tinte.«
Corso deutete auf die vier weißen Blätter des Manuskripts, die Durchstreichungen und Anmerkungen aufwiesen.
»Und was ist damit?«
Replinger zog die Augenbrauen zusammen.
»Maquet. Sein Mitarbeiter Auguste Maquet. Das sind Korrekturen, die Dumas in der Urfassung vorgenommen hat.« Er fuhr sich mit dem Finger über den Schnurrbart und beugte sich dann vor, um den Text mit theatralischer Miene zu deklamieren: »Schrecklich! Schrecklich!< murmelte Athos, während Porthos die Flaschen zerschlug und Aramis den etwas verspäteten Befehl gab, einen Beichtvater zu holen.« Der Antiquar beendete den Satz mit einem Seufzer und nickte zufrieden, während er Corso das Blatt hinhielt. »Sehen Sie hier: Maquet hatte lediglich geschrieben: Und hauchte vor den entsetzten Freunden d’Artagnans sein Leben aus. Dumas hat diesen Satz durchgestrichen und die anderen darübergeschrieben, um die Passage mit mehr Dialog zu versehen.«
»Was können Sie mir über Maquet erzählen?«
Der andere zuckte unentschlossen mit den breiten Schultern.
»Nicht sehr viel.« Seine Stimme klang jetzt wieder ausweichend. »Er war zehn Jahre jünger als Dumas und ist ihm von einem gemeinsamen Freund, Gérard de Nerval, vorgestellt worden. Er schrieb ziemlich erfolglos historische Romane, und eines Tages hat er Dumas einen davon gezeigt: Der gute Mann aus Buvat, oder die Verschwörung von Cellamare. Dumas verwandelte das Manuskript in den Chevalier von Harmental und gab es unter seinem Namen in Druck. Maquet bekam dafür 1200 Francs.«
»Können Sie aufgrund der Handschrift und Schreibart bestimmen, wann der Vin d’Anjou abgefaßt worden ist?«
»Klar kann ich das. Es stimmt alles mit Dokumenten aus dem Jahr 1844 überein, dem Entstehungsjahr der Drei Musketiere. Die blauen und weißen Blätter lassen sich mit der Arbeitsweise der beiden erklären: Dumas und sein Partner haben im Akkord geschrieben. Dem d’Artagnan von Courtilz haben sie die Namen ihrer Helden entnommen, die Reise nach Paris, die Intrige mit Milady und die Gestalt der Ehefrau eines Garkochs, der Dumas das Aussehen seiner Geliebten Belle Krebsamer verlieh, um Madame Bonacieux zu verkörpern . Die Entführung Constances ist den Memoiren von La Porte entlehnt, einem Vertrauensmann Anna von Österreichs. Und die berühmte Episode mit den Diamantnadeln haben sie bei La Rochefoucauld und in einem Buch von Roederer gefunden, Politische und galante Intrigen am französischen Hofe. Sie haben zu der Zeit nicht nur an den Drei Musketieren geschrieben, sondern auch an der Königin Margot und am Chevalier von Maison-Rouge. «
Replinger legte eine weitere Verschnaufpause ein. Er steigerte sich mit jedem Wort mehr in die Sache hinein, und sein Gesicht glühte jetzt förmlich. Bei den letzten Buchtiteln hatte er sich vor lauter Eile ein paarmal verhaspelt. Er fürchtete seinen Gesprächspartner zu langweilen, aber andererseits wollte er alle Informationen loswerden, die er besaß.
»Über den Chevalier von Maison-Rouge«, fuhr er fort, als er wieder bei Atem war, »gibt es eine lustige Anekdote. Als der Roman unter seinem Originaltitel angekündigt wurde - Le Chevalier de Rougeville erhielt Dumas ein Protestschreiben, das von einem Marquis mit genau demselben Namen unterzeichnet war. Dumas änderte daraufhin den Titel, aber nach kurzer Zeit erreichte ihn ein zweiter Brief. Sehr geehrter Herr, schrieb der Adlige, geben Sie Ihrem Roman den Titel, der Ihnen beliebt. Ich bin der letzte Abkömmling meines Geschlechts und jage mir in einer Stunde eine Kugel durch den Kopf. Und tatsächlich beging der Marquis von Rougeville wegen einer Weibergeschichte Selbstmord.«
Replinger schnappte erneut nach Luft und lächelte, breit und rotwangig, als wolle er um Nachsicht bitten. Eine seiner kräftigen Pranken lag neben den blauen Blättern auf dem Tisch. >Er sieht aus wie ein erschöpfter Riese<, dachte Corso. Porthos in der Grotte von Locmaria.
»Boris Balkan hat untertrieben: Sie sind ein großer DumasExperte. Kein Wunder, daß Sie beide miteinander befreundet sind.«
»Wir respektieren uns. Aber ich tue nur meine Arbeit.« Replinger senkte verlegen den Kopf. »Als Elsässer bin ich nun einmal gewissenhaft veranlagt. Ich handle mit Dokumenten und Büchern, die handschriftliche Widmungen oder Anmerkungen enthalten. Alle von französischen Autoren aus dem 19. Jahrhundert ... Wie könnte ich beurteilen, was in meine Hände gelangt, wenn ich nicht wüßte, von wem und unter welchen Umständen es geschrieben wurde. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Bestens«, erwiderte Corso. »Genau da liegt der Unterschied zwischen einem Fachmann und einem simplen Trödler.«
Replinger warf ihm einen dankbaren Blick zu.
»Sie sind aus dem Gewerbe. Das merkt man sofort.«
»Ja«, sagte Corso und schnitt eine Grimasse. »Aus dem ältesten Gewerbe der Welt.«
Das Lachen des Antiquars ging in einem asthmatischen Röcheln unter. Corso benützte die Unterbrechung, um ihr Gespräch wieder auf Maquet zu bringen.
»Erzählen Sie mir, wie die beiden gearbeitet haben«, bat er.
»Die Technik war ziemlich kompliziert.« Replingers Hände deuteten auf den Tisch und die Stühle, als hätte die Szene sich dort abgespielt. »Dumas hat zu jeder Geschichte zunächst ein Exposé angefertigt, das er mit seinem Mitarbeiter besprach. Maquet stellte daraufhin Recherchen an und schrieb einen Entwurf oder die erste Fassung: Das sind die weißen Seiten. Später hat Dumas der Geschichte auf den blauen Seiten ihre endgültige Form gegeben. Er arbeitete in Hemdsärmeln, morgens oder nachts, fast nie nachmittags. Dabei hat er weder Kaffee noch Likör getrunken, nur Mineralwasser. Und er rauchte auch kaum. Unter dem Druck der Verleger, die ständig mehr wollten, füllte er Seite um Seite. Maquet hat ihm die Rohfassungen per Post zugeschickt, und wenn Verspätungen auftraten, reagierte Dumas sehr ungeduldig.« Replinger zog aus einer der Mappen einen Zettel heraus und legte ihn vor Corso auf den Tisch.
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