»Stand in beiden Aussagen das gleiche?«
Der Soldat sah zunächst unsicher zu Feng, bevor er antwortete. »Natürlich.«
»Aber wer hat die Worte zu Papier gebracht?« fragte Shan.
»Das sind meine Worte.« Meng wich einen Schritt zurück.
»Haben Sie in jener Nacht einen Mönch gesehen?«
»So steht es in der Aussage.«
Die Worte schienen Feng einen Moment lang die Sprache zu verschlagen. Dann wurde er wütend. »Du kleiner Hosenscheißer!« brüllte er. »Antworte gefälligst klar und deutlich!«
»Waren Sie in jener Nacht im Dienst, Gefreiter Meng?« fragte Shan. »Ihr Name stand nicht auf dem Dienstplan.«
Der Soldat fing an, an seinem Kopfhörer herumzunesteln. »Manchmal tauschen wir die Dienste.«
Fengs Hand zuckte vor und verpaßte dem Soldaten eine Ohrfeige. »Der Inspektor hat dir eine Frage gestellt.«
Shan sah Feng überrascht an. Der Inspektor.
Meng musterte den Sergeanten ausdruckslos, als sei er es gewohnt, geschlagen zu werden.
»Haben Sie in jener Nacht einen Mönch gesehen?« fragte Shan erneut.
»Ich bin als Zeuge für die Verhandlung geladen, und daher glaube ich, daß ich mit niemandem sprechen darf.«
Im ersten Moment legte Fengs Gesicht sich abermals in zornige Falten, die jedoch unmittelbar darauf wieder verschwanden. Der Soldat hatte sie allerdings schon bemerkt und war noch ein Stück zurückgewichen. »Es ist politisch«, murmelte er und rannte weg. Feng starrte ihm hinterher und sah dabei nicht länger wütend, sondern verletzt aus.
Der Sergeant machte keinen Hehl aus seiner Mißstimmung, fuhr die Gänge bis in hohe Drehzahlbereiche aus und bremste kaum an den Kreuzungen, bis sie die Nordklaue erreichten und den langen Aufstieg zur Mine der Amerikaner begannen.
»Hier«, murmelte er schließlich und zog eine Zellophantüte aus der Tasche. »Kürbiskerne.« Er reichte die Tüte an Shan weiter. »Richtig gute, nicht dieser fade Mist, den man auf dem Markt bekommt. Gesalzen. Hol ich mir immer von der Verpflegungsstelle.«
Bedächtig und schweigend kauten sie ihre Kerne, wie zwei alte Männer auf einer Parkbank in Peking. Wenig später beugte Feng sich vor und achtete besonders auf den Straßenrand.
»Chang hat gesagt, man würde eine ganze Stunde sparen«, erklärte Feng, als er auf einen ausgetretenen Weg einbog, der kaum mehr als ein Ziegenpfad zu sein schien. »Auf diese Weise können wir rechtzeitig zum Abendessen zurück sein.«
Nach fünf Minuten näherte der Pfad sich dem Kamm eines Bergrückens. Rechts, kaum einen Meter vom Wagen entfernt, ging es beinahe senkrecht in die Tiefe. Mehr als hundert Meter unter ihnen war ein großes Geröllfeld auszumachen.
»Wie soll dieser Weg denn zu den Amerikanern führen?« fragte Yeshe nervös. »Wir müssen doch noch den Abgrund überqueren.«
»Mach ein Nickerchen«, brummte Feng. »Spar deine Kräfte für all die Arbeit, die bei der 404ten auf dich wartet.«
»Was soll das denn heißen?« fragte Yeshe beunruhigt.
»Ich habe mit der Sekretärin des Direktors gesprochen, ganz wie du mich gebeten hast. Sie hat gesagt, momentan würde niemand am Computer arbeiten. Der Direktor hat angeordnet, man solle einfach alles ansammeln, weil in zwei Wochen jemand kommt.«
»Das könnte auch jemand anders sein«, protestierte Yeshe.
Feng schüttelte den Kopf. »Sie hat einen der Offiziere in der Verwaltung gefragt, und der hat gesagt, der tibetische Bengel des Direktors würde zurückkommen.«
Von hinten war ein leises Stöhnen zu vernehmen. Shan drehte sich um und sah, daß Yeshe vornübergebeugt dasaß und die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Bekümmert wandte Shan sich ab. Er hatte es Yeshe bereits gesagt. Es war an der Zeit für ihn, sich zu entscheiden, wer er war.
Plötzlich hob Shan die Hand. »Da...«, sagte er, als Sergeant Feng das Tempo verringerte, und wies auf frische Reifenspuren, die vom Pfad abbogen und hinter der Kammlinie verschwanden.
»Also sind wir nicht die einzigen, die diese Abkürzung benutzen«, sagte Feng wie zur Rechtfertigung.
Viele andere auch, dachte Shan - zum Beispiel Amerikaner auf der Suche nach alten Schreinen.
Shan öffnete die Tür und ging vorsichtig um den Wagen herum, wobei er besonders auf die jähe Abbruchkante achtete.
Er hob einen Heidekrautstengel auf, der inmitten der Spur lag, und reichte ihn Feng. »Riechen Sie mal. Der wurde vor noch nicht einmal einer Stunde zerbrochen.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, daß ich dieser frischen Fährte folgen werde. Der Weg vor Ihnen führt um diese Felsformation herum und dann zum Kamm. Ich treffe Sie auf der anderen Seite.«
Feng runzelte die Stirn, fuhr aber langsam wieder an.
Während Shan den Hang hinaufstieg, versuchte er, die Lage der verschiedenen Orte einzuordnen. Die Schädelhöhle lag knapp anderthalb Kilometer von hier entfernt. War das hier der Hintereingang der Amerikaner? Waren Fowler und Kincaid so dumm gewesen, zu dem Schrein zurückzukehren? Als er sich dem Grat näherte, hörte er ein eigentümliches Geräusch. Wie Glocken, dachte er. Nein, Trommeln. Ein paar Meter weiter erkannte er, daß es sich um Rockmusik handelte. Als er den Kamm erreichte, ging er sofort in die Hocke und wich ein Stück zurück. Da stand zwar ein Geländefahrzeug, aber es gehörte nicht den Amerikanern. Der Wagen war leuchtend rot.
Nachdem Shan sich von dem Schreck erholt hatte, streckte er vorsichtig den Kopf zwischen den Felsen hervor. Es war der große Land Rover, den Hu gefahren hatte, aber die Gestalt auf dem Fahrersitz, die im Takt der Musik auf das Lenkrad trommelte, war zu groß, als daß es sich um Hu hätte handeln können.
Es ergab keinen Sinn, an dieser Stelle anzuhalten. Man konnte keine weitere Menschenseele sehen, niemanden, auf den der Wagen vielleicht gewartet hätte. Es gab nicht einmal sonderlich viel Landschaft zu betrachten, weil die vorstehenden Felsen den Blick entlang des Abhangs größtenteils verwehrten.
Shans Neugier führte dazu, daß er, ohne sich dessen bewußt zu sein, langsam aufstand. Hinter dem Wagen hatten sich frische Erdhaufen aufgetürmt, und vor dem Fahrzeug befand sich ein riesiger, anderthalb Meter hoher Felsblock, der gefährlich nahe am oberen Rand einer Böschung lag, die steil zum Weg hin abfiel. Plötzlich richtete der Mann hinter dem Steuer sich auf und schaute angestrengt zum Pfad hinunter. Der Wagen mit Feng und Yeshe kam in Sicht. Die Gestalt in dem Land Rover hob die Faust wie bei einer Siegesgeste und gab Vollgas.
»Nein!« schrie Shan und rannte auf den Wagen zu. Die Räder drehten durch und schleuderten noch mehr Erde empor. Der Felsblock bewegte sich.
Shan rannte durch die Staubwolke hindurch und hämmerte heftig gegen das Fenster auf der Fahrerseite. Der Mann drehte sich um und starrte ihn völlig verblüfft an. Es war Leutnant Chang.
Shan konnte sehen, wie er nach dem Schalthebel griff. Im ersten Moment schien der Wagen ein Stück zurückzurollen, als Chang dort herumhantierte. Dann machte das Fahrzeug einen Satz nach vorn. Mit einem mächtigen Ruck kippten sowohl der Felsblock als auch der Land Rover über die Kante nach unten.
Shan sah wie in Zeitlupe, daß Feng anhielt und dann mit Yeshe genau in der Sekunde aus dem Wagen sprang, als der Felsblock an ihnen vorbeisauste und im Abgrund verschwand. Der Land Rover fiel seitlich auf den Abhang und rollte die steile Böschung hinunter. Glas zerbarst, Metall knirschte, und die Räder drehten sich noch immer. Mitten in der Umdrehung erreichte der Wagen den Weg und landete in einer Staubwolke auf der Fahrerseite. Die vordere Hälfte des Fahrzeugs ragte hinaus in den Abgrund.
Shan erreichte den Pfad völlig außer Atem genau in dem Augenblick, als ein Arm sich durch das zerbrochene Beifahrerfenster streckte. Chang erschien in der Öffnung und fing an, sich hinauszuziehen. Seine Stirn war mit Blut beschmiert. Die Musik spielte noch immer.
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