An einer der Wände waren Fotokarten angebracht. An einer anderen hatte man mit Stecknadeln Fotografien befestigt: weitere Studien tibetischer Gesichter, die mit der gleichen Feinfühligkeit aufgenommen worden waren, wie Shan sie in Kincaids Büro gesehen hatte. Li gab ihm die Limonade.
»Mir war gar nicht bewußt, daß das Büro des Anklägers sich für Mineralabbau interessiert«, sagte Shan und stellte die Dose auf den Tisch, ohne sie zu öffnen.
»Wir sind das Justizministerium. Die Mine ist die einzige ausländische Investition im ganzen Bezirk. Die Volksregierung muß sicherstellen, daß alles erfolgreich verläuft. Es gibt so vieles zu bedenken. Die Organisation der Arbeit, Exportgenehmigungen, Devisenbescheinigungen, Arbeitserlaubnisse, Umweltschutzbestimmungen. In all diesen Angelegenheiten muß das Ministerium konsultiert werden.«
»Ich hatte ja keine Ahnung, daß Bor ein solch wichtiges Produkt darstellt.«
Der stellvertretende Ankläger lächelte großmütig. »Wir möchten, daß unsere amerikanischen Freunde auch weiterhin zufrieden sind. Ein Drittel der Lizenzgebühren verbleibt im Bezirk. Nach drei Jahren der Produktion werden wir in der Lage sein, eine neue Schule zu bauen. Nach fünf Jahren vielleicht eine neue Klinik.«
Shan ging zu einem der Computermonitore, die näher bei Kincaid standen. Endlose Zahlenkolonnen liefen über den Bildschirm.
»Unseren Freund, den Genossen Hu, kennen Sie ja bereits«, sagte Li und wies auf den ersten der beiden Männer am Tisch. Hu salutierte genauso spöttisch in seine Richtung, wie zuvor, als er Shan in Tans Büro zurückgelassen hatte. Mit der Kappe auf dem Kopf hatte Shan ihn nicht erkannt. Er nahm den Direktor der Minen genauer in Augenschein. War Hu überrascht, ihn zu sehen?
»Genosse Inspektor«, grüßte Hu ihn kurz angebunden, musterte Shan einen Moment lang mit seinen kleinen Käferaugen und widmete sich dann wieder dem Katalog. Darin waren Bilder von lächelnden blonden Paaren zu sehen, die im Schnee standen und leuchtendbunte Pullover trugen.
»Geben Sie immer noch Fahrstunden, Genosse Direktor?« fragte Shan und versuchte so zu tun, als würde der Computer ihn ablenken.
Hu lachte.
Li deutete auf den zweiten Mann, eine gepflegte, athletische Gestalt, die langsam aufstand, um Shan besser abschätzen zu können. »Der Major gehört zum Grenzkommando.« Li sah Shan bedeutungsvoll an. »Er verfügt über Mittel und Wege, um unser Projekt zu unterstützen.« Der Major, sonst nichts. Er wirkte so geschniegelt, als wäre er direkt den Seiten des Katalogs entstiegen, dachte Shan zuerst. Aber dann wandte er Shan das Gesicht zu. Über seine linke Wange verlief ein Streifen Narbengewebe; es konnte nur von einer Schußverletzung herrühren. Seine Lippen verzogen sich zu einem als Gruß gedachten Lächeln, aber seine Augen blieben leblos. Es war die altbekannte Überheblichkeit. Der Major, beschloß Shan, gehörte zum Büro für Öffentliche Sicherheit.
»Eine faszinierende Anlage«, sagte Shan geistesabwesend und schlenderte weiter im Raum umher. »Voller Überraschungen.« Er blieb vor den Fotos stehen.
»Ein Triumph des Sozialismus«, stellte der Major fest. Seine Stimme hatte einen jungenhaften Klang, der von seinem Gesichtsausdruck Lügen gestraft wurde.
Tyler Kincaid nickte Shan ruhig zu, sagte jedoch nichts. Sein halber Unterarm war in ein großes Stück Gaze gewickelt, das man mit Heftpflaster über einer relativ frischen Verletzung befestigt hatte. Durch die Gaze hindurch konnte man einen dunklen Fleck erkennen, der von getrocknetem Blut stammte.
»Genosse Shan ermittelt in einem Mordfall«, erklärte Li dem Major. »Früher hat er Antikorruptionskampagnen in Peking geleitet. Er hat zum Beispiel die berüchtigte Hainan-Affäre aufgedeckt.« Durch diesen Fall hatte Shan für einige Monate regelrechte Berühmtheit erlangt. Er fand heraus, daß Provinzbeamten der Insel Hainan Schiffsladungen voller japanischer Automobile kauften - und das für eine Insel, deren Straßennetz nur etwa hundertfünfzig Kilometer umfaßte -, um diese dann auf dem Schwarzmarkt ins Festland zu verschieben. Doch das lag fünfzehn Jahre zurück. Mit wem hatte der stellvertretende Ankläger gesprochen? Mit Direktor Zhong? Mit Peking?
Shan musterte den Major, der Lis Ausführungen keine Beachtung schenkte. Sein Blick hatte nicht bedrohlich gewirkt und seine Stimme nicht fragend, obwohl Shan hier unaufgefordert eingedrungen war. Er wußte bereits, um wen es sich bei Shan handelte.
»Und hier befindet sich auch Ihre Telefonanlage?« fragte Shan den Amerikaner.
Kincaid stand auf und rang sich ein Lächeln ab. »Da drüben«, sagte er und wies auf einen kleinen Tisch an der Wand, auf dem sich eine Konsole befand, über der wiederum ein Lautsprecher hing. »Möchten Sie sich aus New York eine Pizza bestellen?«
Li und der Major lachten angestrengt.
»Und die Karten?«
»Karten? Wir verfügen über eine komplette Handbibliothek mit Atlanten und technischen Zeitschriften.«
»Ich meine die Satellitenbilder.«
»Erstaunlich, nicht wahr?« schaltete Li sich ein. »Als wir sie zum erstenmal gesehen haben, kam es uns wie ein Wunder vor. Die Welt sieht so anders aus.« Er ging zu Shan und beugte sich vor. »Wir müssen über unsere Akten sprechen, Genosse«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Es sind nur noch wenige Tage bis zum Prozeß, und es besteht kein Anlaß zu übertriebener Zurückhaltung.«
Noch während Shan über das Angebot des stellvertretenden Anklägers nachdachte, ging die Tür auf, und Luntok erschien. Er nickte Kincaid zu und verschwand schnell wieder. Die Tür ließ er hinter sich offenstehen. Kincaid streckte sich und forderte Shan mit einer einladenden Geste auf, ihm zu folgen. »Der Nachmittagskletterkurs. Wollen Sie sich nicht auch mal mit uns abseilen?«
»Sie klettern trotz Ihrer Verletzung?«
»Das hier?« fragte der Amerikaner leutselig und hob den Arm. »Das ist nicht weiter schlimm. Ich bin bloß an einem gezackten Stück Quarz hängengeblieben. Davon lasse ich mich nicht beeindrucken. Wissen Sie, man muß sich immer wieder aufrappeln.«
Li lachte erneut und ging zurück zum Sofa. Hu blätterte weiter in seinen Katalogen. Der Major zündete sich eine Zigarette an und schob Shan mit einem durchdringenden Blick zur Tür hinaus.
Draußen saß Rebecca Fowler auf der Motorhaube ihres Wagens und schaute ins Tal hinunter.
Shan dachte nicht, daß sie ihn bemerkt hatte, bis sie plötzlich das Wort ergriff. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie das für Sie sein muß«, sagte sie.
Ihr Mitleid war ihm unangenehm. »Falls man mich nicht nach Tibet geschickt hätte, hätte ich auch nie die Tibeter kennengelernt.«
Sie wandte sich mit einem traurigen Lächeln zu ihm um und griff in die große Tasche ihrer Nylonweste. »Hier«, sagte sie und holte zwei Taschenbücher hervor. »Bloß zwei englische Romane. Ich dachte, Sie würden vielleicht...«
Shan nahm die Bücher und neigte zum Dank leicht den Kopf. »Das ist sehr nett von Ihnen. Ich habe schon lange keinen englischen Text mehr gelesen.« Die Bücher hätten in der Tat einen echten Schatz bedeutet. Allerdings würde man sie konfiszieren, sobald man ihn wieder zur 404ten schickte. Er brachte es nicht übers Herz, Miss Fowler davon zu erzählen.
Er lehnte sich gegen den Wagen und schaute zu den umliegenden Bergen empor. Die schneebedeckten Gipfel glühten in der Sonne des späten Nachmittags. »Die Soldaten sind weg«, stellte er fest.
Fowler folgte seinem Blick zu den Teichen. »Ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Die Männer wurden zu irgendeinem Notfall abberufen.« »Einem Notfall?«
»Der Major hatte etwas damit zu tun.«
Shan ging vorn um den Wagen herum und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Jemand saß auf einem der Wälle und starrte auf die Berge. Shan kniff die Augen zusammen und erkannte, daß es sich um Yeshe handelte. Sergeant Feng saß auf der Motorhaube ihres Wagens. Als Shan zu dem Bereich hinter den Gebäuden schaute, erstarrte er in der Bewegung. Hinter dem ersten Haus stand ein vertrautes Fahrzeug. Ein roter Land Rover. Noch ein roter Land Rover. »Wessen Wagen ist das?«
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