Leutnant Chang hielt in der Bewegung inne und rief nach Feng, der in drei Metern Entfernung stand. In diesem Moment ächzte das Metall, und irgend etwas gab nach. Chang schrie auf. Der Wagen rutschte ein paar Zentimeter weiter über die Kante und blieb dann wieder liegen.
Auf Changs Gesicht zeichnete sich Angst ab. »Sergeant!« brüllte er. »Holen Sie mich..«
Er konnte den Satz nicht mehr beenden. Der Land Rover kippte ganz plötzlich zur Seite und verschwand außer Sicht. Sie konnten noch immer die Musik hören, während er fiel.
Schweigend fuhren sie den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren, bis sie wieder die Hauptstraße erreichten. Sergeant Feng war völlig durcheinander. Seine Hände am Lenkrad zitterten. Auch wenn er sich noch so sehr dagegen sträubte, Shan wußte, daß Sergeant Feng der Wahrheit letztendlich nicht ausweichen konnte. Chang hatte versucht, auch ihn zu ermorden.
Als sie schließlich den Bergkamm oberhalb der Bor-Mine soeben hinter sich gelassen hatten, bedeutete Shan dem Sergeanten, er möge anhalten. Da war ein Schrein, den er bei ihrem ersten Besuch gar nicht bemerkt hatte, auf einem Vorsprung, hundert Meter über dem Talgrund. Rund um einen Steinhaufen flatterten Gebetsfahnen. Manche waren lediglich bunte Stoffetzen. Andere waren riesige Banner, auf die man Gebete gemalt hatte und die von den Tibetern Pferdefahnen genannt wurden.
»Ich möchte mehr über diesen Schrein wissen«, sagte er zu Yeshe und Feng, als sie den Wagen abstellten. »Sucht nach einem Weg dort hinauf. Versucht herauszufinden, wer den Schrein errichtet hat und woher die Leute gekommen sind.«
Yeshe legte den Kopf in den Nacken und schaute neugierig zum Schrein empor. Dann ging er los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Feng bedachte Shan mit einem mürrischen Blick.
Dann aber zuckte er die Achseln, überprüfte die Munition in seiner Pistole und lief Yeshe hinterher.
Das Büro der Mine war beinahe leer, als Shan eintrat. Die Frau, die den Tee serviert hatte, saß schlafend auf einem Hocker und hatte sich an die Wand gelehnt. Zwei Männer in schmutziger Arbeitskleidung standen über den großen Tisch gebeugt. Einer nickte Shan grüßend zu, als dieser sich näherte. Es war Luntok, der ragyapa-Ingenieur. Die rote Tür am Ende des Raums war auch diesmal wieder geschlossen. Man hörte dahinter Stimmen und das leise Summen elektronischer Geräte.
Die beiden Männer nahmen Abmessungen auf einer der bunten Karten vor, die Shan zuvor schon gesehen hatte. In der Mitte befand sich ein blaues Rechteck, darunter mehrere Reihen kleinerer blaugrüner Rechtecke. Plötzlich erkannte Shan die Abbildungen.
»Das sind die Teiche, nicht wahr? Ich habe noch nie eine solche Karte gesehen«, staunte er. »Fertigen Sie die hier selbst an?«
Luntok blickte auf. »Das ist besser als eine Karte. Es ist ein Foto. Von oben, von einem Satelliten.«
Shan starrte ihn verblüfft an. Satellitenfotos lagen nicht jenseits seiner Vorstellungskraft; er hatte hier lediglich nicht damit gerechnet. Tibet existierte fürwahr in vielen verschiedenen Jahrhunderten zugleich.
»Wir müssen über die Schneeschmelze Bescheid wissen«, erklärte Luntok. »Über den Pegelstand und Verlauf der Flüsse, über Lawinen oberhalb von uns, über den Zustand der Straßen, wenn die Lieferungen verschickt werden. Ohne diese Bilder würden wir jede Woche Beobachtungsteams in die Berge schicken müssen.«
Luntok wies auf die Teiche der Mine, die Gebäude des Lagers und ganz am linken Rand auf eine Ansammlung geometrischer Formen, die den Außenbezirk der Stadt Lhadrung darstellten.
Mit dem Finger umriß er den großen Damm am oberen Ende des Drachenschlunds, legte die Karte dann beiseite und wies auf ein zweites, früheres Foto. »So hat das vor zwei Wochen ausgesehen, kurz bevor die Arbeiten daran abgeschlossen wurden.« Ungefähr in der Mitte des Damms sah Shan ein paar Farbflecke, bei denen es sich um Arbeitsmaschinen handeln mußte.
»Aber wie kommt man an solche Bilder?«
»Es gibt einen amerikanischen und einen französischen Satelliten. Wir haben Abonnements. Die Oberfläche der Erde ist in einzelne Sektionen unterteilt. Aus einem Katalog können wir das Bild einer bestimmten Sektion per Angabe der Nummer anfordern. Dieses Bild wird dann an unseren Computer übertragen«, sagte er und deutete mit dem Daumen auf die rote Tür.
»Aber die Armee...«
»Es gibt eine Lizenz«, erklärte Luntok geduldig. »Das ist alles ganz legal.«
Ein westliches Unternehmen erhielt die Lizenz, eine Technik zu nutzen, mit der sich nicht nur Schneeansammlungen, sondern genauso einfach Truppenbewegungen, Luftmanöver und Armeeliegenschaften beobachten ließen. Die Amerikaner hatten ein echtes Wunder vollbracht, in Tibet eine solche Genehmigung zu bekommen.
Shan fand die Straße, die zu der Mine führte. Sie erschien als winzige graue Linie, die zwischen den Schatten der Berggipfel zu sehen war. Er entdeckte die nördliche Straße, die bis zum Kloster Saskya verlief, und schließlich auch die Baustelle der 404ten. Die neue Brücke war ein schmaler Strich, der das gewundene graue Band des Drachenschlunds überquerte.
Shan nahm neben Luntok Platz. »Ich bin im ragyapa-Dorf gewesen«, verkündete er. Der Mann neben Luntok erstarrte und warf dem Ingenieur einen Blick zu, während dieser nicht reagierte und weiterhin die Karten in Augenschein nahm. Der Mann griff sich seine Mütze und verließ das Gebäude.
»Ich habe mit Merak gesprochen«, sagte Shan. »Kennen Sie Merak?«
»Es ist eine kleine Gemeinschaft«, stellte Luntok lakonisch fest.
»Es muß schwierig sein.«
»Es gibt inzwischen Quoten für uns. Ich durfte die Universität besuchen. Ich habe eine gute Anstellung.«
»Ich meine für die anderen. Sie sehen die Leute hier und in der Stadt und wissen gleichzeitig, daß die meisten von ihnen den Absprung niemals schaffen werden.«
Luntoks Augen verengten sich, aber er wandte sie nicht von der Fotokarte ab. »Die ragyapas sind stolz auf ihre Arbeit. Es ist eine heilige Pflicht, die einzige religiöse Praktik, die ohne Einschränkung auch weiterhin ausgeübt werden darf.«
»Sie scheinen gut versorgt zu werden. Glückliche Kinder. Viel warme Kleidung.«
Als wäre Shans Bemerkung das Stichwort, auf das er gewartet hatte, nahm auch Luntok seine Mütze und stand auf. »Es bringt angeblich Unglück, einen ragyapa zu schlecht zu bezahlen«, sagte er mit einem argwöhnischen Blick, drehte sich um und ging.
Shan zweifelte nicht daran, daß die ragyapas in der Lage gewesen wären, den Mord an Jao durchzuführen. Waren die Armeevorräte eine Belohnung gewesen? Falls ja, hatte jemand anders sie für die Ermordung Jaos bezahlt. Jemand, der auf Militärbestände zugreifen konnte. Shan ging zurück in den ersten Raum und sah sich dort um. Die Frau schnarchte inzwischen. Sonst war niemand dort. Shan ging zu der roten Tür und öffnete sie.
Ingesamt vier Computerterminals beherrschten das Zimmer.
Auf einem großen Konferenztisch standen als Überreste eines Mittagessens ein paar Schalen, an deren Rändern noch Nudeln klebten. Zwei Chinesen in westlicher Kleidung saßen da, blätterten in Hochglanzkatalogen und tranken Tee. Einer von ihnen hatte sich eine Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. Aus einer teuren Stereoanlage erklang westliche Rockmusik. An einem Schreibtisch in der Ecke des Raums saß Tyler Kincaid und reinigte seine Kamera.
»Genosse Shan«, sagte eine vertraute Stimme aus dem hinteren Teil des Zimmers. Li Aidang erhob sich von einem Sofa. »Wenn ich doch nur Bescheid gewußt hätte, dann hätte ich Ihnen selbstverständlich angeboten, gemeinsam mit mir herzufahren.« Er wies auf den Tisch. »Wir treffen uns hier zweimal im Monat zum Mittagessen. Die Aufsichtskommission.«
Shan ging langsam im Zimmer umher. Auf einem der Lautsprecher lag eine leere Kassettenhülle. The Grateful Dead, stand darauf. Vielleicht hatte Chang diese Kassette gehört, als er und sein Wagen in den Abgrund stürzten, dachte Shan ohne Reue. Aus einem kleinen Kühlschrank holte Li eine Coca-Cola hervor und streckte sie Shan entgegen.
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