Der ragyapa dachte sorgfältig darüber nach. »Ich unterstütze sie. Eines Tages wird sie ein eigenes Geschäft besitzen.«
»Ein Geschäft kann sehr teuer sein.«
»Noch fünf Jahre. Ich habe es genau ausgerechnet. Die ragyapas haben die sichersten Berufe von ganz Tibet.« Es klang wie ein alter Witz.
»Ist Tamdin hiergewesen? Benötigen Sie deshalb die Zaubersprüche?« fragte Shan. Oder wohnt Tamdin hier, sollte er vielleicht fragen. Könnte es denn wirklich so einfach sein? Die verbitterten, abgeschobenen ragyapas mußten den Rest der Welt hassen, vor allem dessen hohe Beamten. Und wer wäre qualifizierter gewesen, Ankläger Jao abzuschlachten? Oder Xong De vom Ministerium für Geologie das Herz herauszuschneiden?
Der Mann seufzte. »Die Zauber sind nicht für uns hier bestimmt.«
»Wofür dann? Und für wen? Soll das heißen, Sie verkaufen sie an jemand anderen?«
»Über diese Dinge spricht man nicht.« Der Mann wischte noch einmal über die Klinge, als wolle er Shan warnen.
»Verkaufen Sie die Zauber?« wiederholte Shan. »Wollen Sie Ihrer Tochter auf diese Weise das Geschäft bezahlen?«
Der Mann schaute zu den kreisenden Vögeln empor. Ein ragyapa-Dorf wäre der perfekte Ort für einen Mord, erkannte Shan. Als würde man den eigenen Offizier auf dem Schlachtfeld erschießen, weil man ihn haßte. Eine zusätzliche Leiche würde gar nicht auffallen.
Der Mann antwortete nicht. Er blickte hinunter ins Dorf und sah, daß die anderen Männer ihn anstarrten. Wütend herrschte er sie an, worauf sie begannen, ihre Arbeit an den Werkzeugen fortzusetzen. Yeshe raufte seltsamerweise immer noch mit den Kindern.
Shan wandte sich wieder dem Mann zu. Der ragyapa war nicht nur älter als die meisten anderen, er war offenbar auch der Dorfvorsteher. »Ich möchte lediglich wissen, wer es ist. Irgend jemand muß zu verlegen oder zu ängstlich sein, um selbst nach den Sprüchen zu fragen. Ist es jemand aus der Regierung?« Der Mann drehte sich von Shan weg. »Jemand anders könnte auf die gleiche Idee kommen wie ich«, sagte Shan zu seinem Rücken. »Dieser Jemand würde vielleicht ganz andere Methoden anwenden, um Sie zu überzeugen.«
»Sie meinen die Öffentliche Sicherheit«, flüsterte der Mann. Die Kriecher wurden sich bestimmt weitaus stärker als Shan für die Arbeitspapiere seiner Tochter interessieren. Sein Gesicht schien bei diesen Worten in sich zusammenzufallen. Er starrte zu Boden.
Shan nannte dem Mann seinen Namen.
Der Dorfvorsteher sah überrascht auf, denn er war solche Gesten nicht gewohnt. »Ich heiße Merak«, erwiderte er vorsichtig.
»Sie sind bestimmt sehr stolz auf Ihre Tochter.«
Merak hielt inne und betrachtete Shan nachdenklich. »Als ich ein Junge war«, sagte er, »konnte ich nie verstehen, weshalb die anderen mich nicht in ihrer Nähe haben wollten. Ich habe mich zum Stadtrand geschlichen und mich dort versteckt, nur um den anderen beim Spielen zuzusehen. Wissen Sie, wer mein bester Freund war? Ein junger Geier. Ich habe ihn darauf dressiert, zu mir zu kommen, wenn ich ihn rief. Er war das einzige Lebewesen, das mir vertraut hat, das mich so akzeptiert hat, wie ich war. Als ich eines Tages nach ihm rief, hat ein Adler sich auf ihn gestürzt. Er hat meinen Freund getötet. Hat ihn einfach so aus der Luft gepflückt, weil er auf mich geachtet hat und nicht auf den Himmel.«
»Man findet nur selten jemanden, der Vertrauen hat.«
»Wir sind auch Geier. Zumindest hält uns der Rest der Welt dafür. Mein Vater hat immer darüber gelacht. Er hat gesagt: >Das ist der große Vorteil, den wir gegenüber allen anderen haben. Wir wissen genau, wer wir sind.<���«
»Jemand hat Sie darum gebeten, ihm einen Zauberspruch zu besorgen. Jemand, der glaubt, er habe Tamdin beleidigt.«
Merak wies mit ausholender Geste auf die Gebäude unterhalb. »Weshalb sollten wir dafür Verwendung haben?«
»Die ragyapas glauben nicht an Dämonen?«
»Die ragyapas glauben an Geier.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Zuerst erzählen Sie mir etwas.« »Was denn?«
»Sie stammen aus dem Rest der Welt«, sagte Merak und nickte in Richtung des Tals. »Sagen Sie mir, daß Sie nicht an Dämonen glauben.«
Ein Stück weiter oben am Hang erhob sich lautes Flügelschlagen. Shan schaute hin und bereute es sofort. Zwei Geier veranstalteten ein Tauziehen um eine menschliche Hand.
Shan blickte kurz auf seine eigenen Hände und fuhr sich mit den Fingern über die Schwielen. »Ich habe schon zuviel erlebt, um Ihnen auf diese Frage antworten zu können.«
Merak nickte verständnisvoll und begleitete Shan dann schweigend zurück zum Dorf.
»Die amerikanische Mine«, sagte Shan zu Feng. Es gab noch einen ragyapa, fiel ihm ein, der in den hohen Gebirgsregionen herumkletterte, in denen Tamdin beheimatet war.
Yeshe streckte Shan von der Rückbank eine Kindersocke entgegen, als sei dies eine besondere Trophäe. »Haben Sie es denn nicht bemerkt?« fragte er mit bedeutungsvollem Grinsen.
»Was denn?«
»Die verschwundenen Armeebestände, die ich im Auftrag von Direktor Zhong registriert habe. Die Mützen, die Schuhe, die Hemden. Und alle haben grüne Socken getragen.«
»Ich verstehe nicht«, bekannte Shan.
»Die vermißten Vorräte. Sie sind hier. Die ragyapas haben sie.«
»Nein«, sagte Shan, als sie von der Hauptstraße auf die Zufahrt zum Lager Jadefrühling einbogen. »Zur Mine der Amerikaner.«
»Ja«, erwiderte Sergeant Feng. »Nur ein kurzer Zwischenstop. Es dauert nicht lange.«
Er hielt neben dem Speisesaal an, stieg aus und öffnete Shan zu dessen Überraschung die Tür. »Es dauert nicht lange«, wiederholte er.
Shan folgte ihm verwirrt, aber dann fiel es ihm wieder ein. »Sie haben mit Leutnant Chang gesprochen.«
Feng grunzte nichtssagend.
»Ist er versetzt worden? Er verbringt momentan nicht allzuviel Zeit bei der 404ten.«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt? Mit zweihundert Mann Grenztruppen, die dort ihr Lager aufgeschlagen haben? Weshalb sollte er?«
»Was wollte er denn?«
»Einfach nur reden. Er hat mir von einer Abkürzung auf dem Weg zur amerikanischen Mine erzählt.«
Im Speisesaal saßen zahlreiche Soldaten in kleinen Gruppen zusammen und tranken Tee. Feng ließ den Blick durch den Raum schweifen und führte Shan dann zu drei Männern, die im hinteren Teil des Saals Mah-Jongg spielten.
»Meng Lau«, rief er. Zwei der Männer zuckten zusammen und sprangen auf. Der dritte, der Feng und Shan den Rücken zuwandte, lachte und legte einen Spielstein. Als Feng dem Mann eine Hand auf die Schulter legte, machten die anderen sich aus dem Staub.
Der Mann stieß einen erschrockenen Fluch aus und drehte sich um. Er war jung, fast noch ein Kind, mit fettigem Haar und trübem, glanzlosem Blick. Er hatte einen umgedrehten Kopfhörer aufgesetzt, dessen Bügel unter seinem Kinn zusammenliefen.
»Meng Lau«, wiederholte Feng.
Das spöttische Grinsen des Mannes verschwand. Langsam nahm er den Kopfhörer ab. Shan knöpfte seine Hemdtasche auf und zeigte ihm das Papier, das Direktor Hu mitgebracht hatte. »Haben Sie das hier unterzeichnet?«
Meng warf Feng einen kurzen Blick zu und nickte langsam.
Mit seinem linken Auge stimmte etwas nicht. Es bewegte sich unbestimmt hin und her, als sei es womöglich künstlich.
»Hat Direktor Hu darum gebeten?«
»Der Ankläger war hier und wollte das so«, erwiderte Meng nervös und stand vom Tisch auf.
»Der Ankläger?«
Meng nickte. »Sein Name ist Li.«
»Demnach haben Sie ein Exemplar für Li und eines für Hu unterzeichnet?«
»Ich habe zwei Blätter unterschrieben.«
Also stimmte es, erkannte Shan. Li Aidang stellte eine eigene Akte zusammen. Doch weshalb sollte er sich die Mühe machen, Shan ein Duplikat der Aussage zuzuspielen? Um sicherzugehen, daß Shan so schnell wie möglich zu einem Ergebnis kam? Um Shan in die Irre zu führen? Oder vielleicht, um ihn zu warnen, daß Li ihm stets einen Schritt voraus sein würde?
Читать дальше