»Sie haben ein Versteck erwähnt«, warf Shan ein. »Meinen Sie damit, er hat ein besonderes Versteck für den Koffer gehabt?«
Sie beachtete ihn nicht. Inzwischen schien sie sich nur noch für Yeshe zu interessieren, als würde sie in ihm jemanden sehen, den niemand sonst erkennen konnte, Yeshe selbst eingeschlossen.
»Wer würde ihn holen? Wovor hat er Angst gehabt?« fragte Yeshe. »Ankläger Jao?«
»Nicht Jao. Jao war gut zu ihm. Hat ihm manchmal zusätzliche Lebensmittelkarten gegeben. Ließ ihn manchmal seine Kleidung tragen.«
»Wer dann?«
Sie runzelte die Stirn und musterte Yeshe durchdringend. »Deine Kräfte sind nicht geschwunden«, sagte sie. »Du bist davon überzeugt. Aber sie liegen lediglich verborgen.«
Yeshe wich einen Schritt zurück, als würde die Frau ihm Angst einflößen. »Wo ist Balti?« fragte er. Seine Stimme hatte einen flehentlichen Unterton angenommen.
»Ein Junge wie der steigt auf. Oder fällt zurück.« Sie lachte, als sie über ihre Worte nachdachte, und sah den Hirten an. »Rauf oder runter«, wiederholte sie und lachte erneut. Dann wandte sie sich wieder an Yeshe. »Auch falls man ihn geholt hat, wird er dennoch zurückkehren. Er wird als Löwe zurückkehren. Denn genau das widerfährt den Sanftmütigen. Er wird als Löwe zurückkehren und uns alle in Stücke reißen, die wir ihn enttäuscht haben.«
Shan ging vor der Frau in die Hocke. »Zeigen Sie uns das Versteck«, flüsterte er.
Sie schien ihn nicht zu hören. »Zeigen Sie es uns«, bat Yeshe. Sie spielte nervös mit ihren Waren herum.
»Wir müssen es sehen«, drängte Shan. »Um Baltis willen.«
»Er hatte solche Angst«, sagte sie.
»Ich glaube, daß er sehr mutig war.«
Endlich ging sie auf ihn ein. »Er hat nachts geweint.«
»Jeder mutige Mann mag auch Gründe zum Weinen haben.«
Sie vermied es, ihn anzusehen. »Was ist, wenn ihr diejenigen seid, die er gefürchtet hat?«
»Sehen Sie uns an. Glauben Sie das wirklich? Würden diese Leute herkommen und so mit Ihnen reden?« Er drückte ihren Arm. Langsam hob sie den Kopf, als bereite es ihr Schmerzen, Shan in die Augen zu blicken.
»Er nicht«, sagte sie und nickte in Yeshes Richtung. »Er ist keiner von denen.«
»Dann tun Sie es um seinetwillen«, sagte Shan.
Da erhob sie sich eilig, als wolle sie die ungebetenen Besucher so schnell wie möglich wieder loswerden. Der Hirte mit seinem Stab kam ebenfalls mit und folgte ihnen in die Garage. Sie gingen an ihrem Wagen vorbei in den hinteren Teil des Gebäudes, der im Schatten lag. Feng saß im Auto und schnarchte laut.
Dort hinten hatte man ein stabiles hölzernes Regal errichtet, das für große Autoteile gedacht war. Ganz unten stand eine Reihe hoher, schmaler Benzinkanister, die aus verschiedenen Personenfahrzeugen und Lastwagen stammten.
Sie legte die Hand auf den dritten Kanister. »Er war klein genug, um dahinter zu greifen«, sagte sie. Shan und Yeshe zogen den Kanister aus dem Regal. Man hatte das hintere Stück des Behälters sauber abgeschnitten und die Kanten des größeren Teils nach innen gebogen, so daß man den Kanister wieder zusammenstecken konnte. Die Steckflächen waren eingefettet. Shan nahm einen Schraubenzieher und hebelte den Deckel ab.
Im Innern befand sich kein Aktenkoffer, sondern lediglich ein verschmutzter Umschlag mit mehreren Blättern aus dünnem Papier.
Die Frau half ihnen dabei, den Kanister zurück ins Regal zu schieben, und wandte sich dann noch einmal an Yeshe. »Deine Kräfte sind nicht geschwunden«, wiederholte sie. »Sie haben nur ihren Mittelpunkt verloren.«
Yeshe wirkte nach diesen Worten wie gelähmt. Als Shan ihn zum Wagen zog und Feng zurief, er möge aufwachen, war Yeshe nicht in der Lage, den Blick von der Frau abzuwenden. Während sie auf die andere Seite der Stadt fuhren, hielt er seinen Rosenkranz fest umklammert. Er ließ die Perlen nicht durch die Finger gleiten, sondern schaute sie nur an. »In Sichuan«, sagte er plötzlich, »könnte ich eine eigene Wohnung haben.«
Shan hatte hinter Feng Platz genommen und musterte die Unterlagen aus dem Kanister. Man hatte sie aus einer Ermittlungsakte gerissen, der Akte über den Mord an Jin San, dem Leiter des Landwirtschaftskollektivs der Langen Mauer, jenem Verbrechen, für das Dza Namkhai, Mitglied der Fünf von Lhadrung, hingerichtet worden war. Am unteren Rand der letzten Seite fand sich eine lange Reihe arabischer Zahlen, die aus fünf Gruppen zu je fünf Ziffern bestand.
»Kräfte«, sagte Yeshe in gequältem Tonfall. »Was für eine Frau. Große Kräfte. Alle Welt kann bestätigen, wie groß meine Kräfte sind.«
Shan blickte auf. »Seien Sie nicht zu hart zu sich. Die stärkste Kraft ist nach meiner Überzeugung die Fähigkeit, richtig und falsch unterscheiden zu können.«
Yeshe dachte darüber nach. »Aber es fühlt sich nie so an, als ginge es um richtig und falsch«, erwiderte er schließlich. »Mir kommt es eher so vor, als müßte man sich für das geringere Übel entscheiden.«
»Was hat die Frau damit gemeint, als sie von einem Geräusch sprach, das die nächste Welt erreichen könne?« fragte Shan.
»Ein Klang ist wie ein Gedanke mit Beinen, wurde in manchen der alten Klöster gelehrt. Falls man es schafft, die eigenen Gedanken auf die richtige Weise zu konzentrieren, kann man über diese Welt hinaussehen. Und falls es gelingt, dieses Prinzip in ein Geräusch umzusetzen, kann man die andere Welt tatsächlich erreichen und berühren.«
»Berühren?«
»Es tut sich eine Art Spalt zwischen den Welten auf. Wie ein Blitzstrahl. Dieser Spalt verfügt über eine unglaubliche Energie. Manche nennen es das Donnerritual. Es kann Dinge zerstören.«
Shan schaute wieder auf die Papiere. Die Frau hatte gesagt, jemand sei hinter Balti hergewesen, und zwar jemand anders als Jao. Balti hatte Jao ebenso vertraut, wie dies umgekehrt der Fall gewesen war. Eine alte Akte, eine abgeschlossene Untersuchung und dennoch so geheim, daß Jao sogar das eigene Büro nicht sicher genug dafür erschien. Oder womöglich sogar besonders unsicher.
»Sie hat gesagt, Balti würde aufsteigen oder zurückfallen«, erinnerte Shan sich beiläufig. »Sie schien es für einen guten Scherz zu halten.«
Yeshe klang noch immer leidend. »Er kehrt entweder auf das Plateau von Kham zurück, das so hoch oben liegt wie sonst nichts auf der Welt. Oder er bleibt und fällt in der Abfolge der Lebensformen zurück.«
Shan nickte langsam und versuchte, eine Verbindung zwischen dieser Äußerung und der Akte herzustellen. Die Fährte war fast greifbar nahe. Wer wollte die Akte? Jemand würde kommen, hatte Balti gesagt. Nicht die purbas. Die hatten nicht gewußt, wer er war. Und falls doch, würden sie Balti nicht in Angst und Schrecken versetzen. Wer dann? Die Kriecher? Eine Verbrecherbande? Soldaten? Kriminelle Soldaten? Wer auch immer es war, hätte sich nicht gescheut, Balti zu ermorden. Man hätte ihn in jener Nacht geschnappt und zum Sprechen gebracht, bis er auch die allerletzte Einzelheit jedes Geheimnisses und jedes Verstecks verraten hätte. Wenn der Kanister also nach wie vor zumindest einen Teil seiner Geheimnisse enthielt, so konnte das nur eines bedeuten, wurde Shan plötzlich klar: Balti war am Leben und in Freiheit.
Die Straße, die zum ragyapa -Dorf führte, hörte etwa siebzig Meter vor der Ansiedlung auf und endete an einer großen Lichtung, auf der eine Reihe flacher Felsen als Abladeplattformen dienten. Als Sergeant Feng auf die Lichtung einbog, kam ihnen mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit ein kleiner Tieflader entgegen. Shan erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine Frau am Fenster. Sie weinte.
Auf dem Pfad zum Dorf war ein Eselkarren unterwegs, auf dem ein langes, dickes Bündel lag, das in Segeltuch gewickelt war.
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