»Wen Li hat das bereits erledigt. Er sagt, es fehlt nichts. Und ich kann den Bezirk nicht verlassen, solange die 404te streikt. Es wäre ein Zeichen der Schwäche.« Plötzlich blickte er auf und stieß einen Fluch aus. »Jetzt hör aber mal zu. Als ob ich mich entschuldigen müßte. Niemand schreibt mir vor...« Die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Kaum etwas brachte die wahre Natur einer Seele so deutlich zum Vorschein wie ein Wutanfall, überlegte Shan.
Der Oberst trat wieder ans Fenster und nahm das Fernglas.
Shan konnte mit bloßem Auge erkennen, daß die Baustelle leer war. »Sie haben recht, die beiden Probleme nicht unabhängig voneinander zu betrachten«, sagte er sehr ruhig.
Tan ließ langsam das Fernglas sinken und drehte sich um.
»Der Mord und der Streik«, sagte Shan. »Beiden liegt dieselbe Ursache zugrunde.«
»Du meinst Jaos Tod.«
»Nein. Nicht Jaos Tod, sondern der Umstand, der zu seinem Tod geführt hat.«
Noch während Tan ihn anstarrte, klingelte das Telefon. Der Oberst nahm ab, hörte kurz zu, gab eine einzelne zustimmende Silbe von sich und legte wieder auf. »Li Aidang ist wieder unterwegs und sammelt deine Beweise«, verkündete er stirnrunzelnd.
Balti, der Chauffeur des Justizministeriums, wohnte in einem Gebäude aus bröckelndem Stuck und Wellblech, das zugleich als Regierungsgarage diente. Shan und der Oberst folgten dem Geräusch von Stimmen eine steile Treppe hinauf und gelangten in einen zugigen, dunklen Speicher über der Garage, in dem Regale voller Autoteile standen. Eine lange Sperrholzplatte, die auf einigen Schlackebrocken ruhte, diente als Bett. Auf der Platte lagen ein paar dreckige Leintuchfetzen, die zuvor anscheinend in der Werkstatt als Wischlappen benutzt worden waren. Auf einer umgedrehten Kiste am Fußende des Bettes standen eine Butterlampe und ein kleiner Keramik-Buddha, beide ziemlich angeschlagen.
In einer Ecke des Raums befanden sich zwei Männer und leuchteten mit Taschenlampen die Regale ab.
»Wir möchten doch nicht, daß der stellvertretende Ankläger uns an Eifer übertrifft«, flüsterte Tan. Halb rechnete Shan damit, daß der Oberst ihm einen Stoß in Richtung der Regale geben würde.
Einer der Männer kam ihnen aus dem Halbdunkel entgegen. Es war Li. Er trug Gummihandschuhe und hatte sich eine koujiao vor den Mund gebunden. Wovor hatte er Angst? Daß er sich mit Buddhismus infizieren könnte?
»Glänzend!« sagte er zu Shan und zog die Maske nach unten. »Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, bis Oberst Tan nach dem Wagen des Anklägers gefragt hat.«
»Woran genau haben Sie nicht gedacht?« fragte Shan.
»An die Verschwörung. An diesen khampa. Er hat den Ankläger zur Südklaue verschleppt, hat ihn gegen seinen Willen dorthin gefahren. Damit Sungpo ihn dort ermorden konnte. Das erklärt auch, wie Sungpo zur Klaue und zurück gekommen ist. Warum der Wagen fehlt. Wieso Balti verschwunden ist.« Während er sprach, suchte Li weiter. Er nahm einen Pappkarton neben dem Bett in Augenschein. Der Karton enthielt sorgsam zusammengelegte Kleidungsstücke. Li schüttete den Inhalt aus und nahm jedes einzelne Stück mit spitzen Fingern auf, als könnten die Sachen von Ungeziefer verseucht sein. Dann kniete er sich hin, leuchtete unter das Bett und zog zwei Schuhe darunter hervor, die er achtlos hinter sich warf.
Shan beugte sich vor und fuhr mit der Hand unter dem Bettzeug entlang. Er fand ein zerknittertes, verblichenes Foto von drei Männern, zwei Frauen und einem Hund, die vor einer Herde Yaks standen. Dann schloß seine Hand sich um etwas Scharfes und Metallisches. Es war ein rundes Stück Chrom. Verwirrt hielt er es auf Armeslänge von sich.
Tan nahm es ihm aus der Hand und musterte es. »Jiefang«, verkündete er. »Das Emblem von der Kühlerhaube.« Auf den Straßen der Region waren die verbeulten Lastwagen der Marke Jiefang ein vertrauter Anblick. Sie wurden erst dann nach Tibet geschickt, wenn sie andernorts bereits ein Fahrzeugleben lang treue Dienste geleistet hatten.
Li nahm die Plakette und rief dem Mann hinter ihm eine kurze Anweisung zu, der daraufhin eine kleine Klarsichttüte aus Plastik hervorholte. Mit feierlicher Geste ließ Li das Chromteil in die Tüte fallen und bedachte Shan mit einem hämischen Blick.
»Sie sollten sich amerikanische Filme anschauen«, erklärte Li und trat an den Rand des Betts. »Überaus lehrreich. Die Unversehrtheit des Beweismaterials ist von ausschlaggebender Bedeutung.« Der Fund hatte ihn regelrecht angespornt, und so riß Li das Bettzeug herunter. Nachdem er dort nichts weiter entdecken konnte, kippte er erst die Sperrholzplatte um und tastete dann mit einer Hand die Hohlräume der Schlackebrocken ab. Bei dem letzten der Steine blickte er siegessicher auf und zog einen Rosenkranz aus Plastikperlen aus dem Versteck.
»Die Limousine. Es ist offensichtlich.« Li ließ die Perlen vor Shans Gesicht baumeln. »Als Belohnung für die Komplizenschaft bei dem Mord hat er Ankläger Jaos Limousine mit der roten Standarte erhalten.« Er ließ die Gebetskette in eine weitere Plastiktüte fallen.
Yeshe trat unbeholfen vor die Regale mit den Autoteilen und fing an, geistesabwesend die Kartons herauszuziehen. Dabei fiel eine verschlissene Postkarte zu Boden, ein Bild des Dalai Lama, das schon vor einigen Jahrzehnten aufgenommen worden war.
»Hervorragend!« rief Li, schnappte sich das Foto und klopfte Yeshe auf die Schulter. »Du lernst, Genosse.«
Yeshe starrte Li verdutzt an. »Man darf solche Bilder heutzutage besitzen«, sagte er, »solange man sie nicht öffentlich zur Schau stellt.« Er klang nicht unbedingt so, als würde er Streit suchen, aber dennoch schwang ein herausfordernder Unterton in Yeshes Stimme mit, der nicht nur Shan überraschte, sondern ihn selbst vielleicht noch mehr verblüffte.
Li schien es nicht zu bemerken. Er wedelte mit dem Foto wie mit einer Fahne. »Kann sein, aber sieh doch nur, wie alt es ist. Es war illegal, als es aufgenommen wurde. So bauen wir unsere Fälle auf, Genosse.« Ein Assistent streckte die nächste Plastiktüte aus, und Li steckte die Postkarte hinein.
Shan ging zu dem Fenster am anderen Ende des Raums und rieb ein Guckloch in den Schmierfilm, von dem die Scheibe überzogen war. Draußen konnte er ihre Fahrzeuge sehen. Jemand rauchte mit Sergeant Feng eine Zigarette. Shan rieb das Glas noch sauberer. Es war Leutnant Chang. Instinktiv wich Shan einen Schritt zurück. Dabei streifte etwas seinen Fuß. Es war einer der Schuhe. Er hob ihn auf und fuhr mit dem Finger an der Kante entlang. Der Schuh bestand aus billigem Vinyl und war von einer dicken Staubschicht überzogen. Er war neuwertig und vermutlich noch nie getragen worden, aber dennoch war er von einer dicken Staubschicht überzogen. Shan nahm den zweiten Schuh. Auch dieser schien ungetragen zu sein, und er war ebenfalls für den linken Fuß bestimmt. Shan kehrte zu den Überresten des Bettes zurück und durchsuchte sie noch einmal. Weitere Schuhe waren nicht vorhanden.
»Und diesen Mann hat die Öffentliche Sicherheit als unbedenklich eingestuft.« Li hielt den kleinen Buddha empor.
»Ein kleiner Mann mit einem fetten Bauch stellt nichts Illegales dar«, merkte Tan frostig an.
Li bedachte den Oberst mit einem herablassenden Blick. »Genosse Oberst, der kriminelle Verstand ist Ihnen offenbar kaum vertraut.« Er unterstrich diese Bemerkung mit einem zufriedenen Lächeln, streckte dann den Arm aus und ließ den Buddha in die nächste Tüte fallen, die einer seiner Assistenten ihm entgegenhielt.
Vor der Garage hatte sich eine kleine Menschenmenge gebildet. Als Tan erschien, huschten die Leute wie verängstigte Tiere auseinander und verschwanden in einer schmalen Gasse. Nur ein Kind blieb zurück, eine kleine Gestalt von drei oder vier Jahren, die in ein Gewand aus schwarzem Yakfell gehüllt war, das von einer Schnur zusammengehalten wurde. Das Kind, dessen Geschlecht nicht eindeutig zu erkennen war, stand da und musterte Tan überaus neugierig.
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