Shan erkannte die Stimme. Es war der purba mit dem Narbengesicht. Als Shan nach unten blickte, sah er zerlumpte Filzstiefel hinter sich. Der Mann war als Hirte verkleidet.
»Diese Leute sind immer auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit«, sagte der purba über Shans Schulter hinweg. »Zauberer wie Khorda nehmen ihnen das Geld ab. Sie haben immer Geld. Für Leute ihres Schlages laufen die Geschäfte stets gut.«
»Ich verstehe nicht.«
»Diese Frau arbeitet in einer Buchhandlung. Sie hat vor etwa einer Woche nach dem Tamdin-Zauber gefragt. Gestern hat sie um einen Bannspruch gegen Hundebisse gebeten.«
»Sie?«
»Die Tochter eines Fleisch-Affen.«
»Ein ragyapa?«
»Straße des grünen Bambus«, lautete die Antwort.
Shan drehte sich um. Der purba war verschwunden.
Zwanzig Minuten später standen Shan und Sergeant Feng am Rand der ausgedienten Schotterstraße im Nordteil der Stadt und beobachteten Yeshe dabei, wie er die Buchhandlung auf der anderen Seite betrat. Im Innern des Ladens war kurz eine kleine, dunkelhäutige Frau zu sehen. Als Yeshe sie ansprach, wies sie auf den rückwärtigen Teil des Geschäfts und ließ den Blick nach links und rechts über die Straße schweifen, bevor sie die Tür schloß.
Weitere zehn Minuten später kam Yeshe aus dem Laden geeilt. Sein Gesicht schimmerte triumphierend. »Sie ist da«, verkündete er. »An der Tür, das war sie. Sie behauptet, sie würde aus Shigatse stammen, aber das stimmt nicht.« Er sagte, er habe nach dem Eigentümer gefragt und erklärt, er sei zu einer unangemeldeten Kontrolle der Arbeitspapiere erschienen. Als der Mann ihm nicht glauben wollte, hatte Yeshe aus dem Fenster gewiesen. Der Anblick eines offiziell wirkenden Wagens mit einem Soldaten am Steuer hatte den Mann sogleich seine Geschäftslizenz und die Arbeitspapiere des Mädchens hervorholen lassen. »Demnach ist sie vor knapp einem Jahr aus Shigatse hergekommen. Doch auf dem Weg nach draußen habe ich sie gefragt, ob sie in Shigatse auch so gern auf die Mauern der alten Festung gestiegen sei. Ja, antwortete sie, und sie habe dort öfter gepicknickt.«
»Es gibt dort noch immer eine Festung?« fragte Shan.
»Eine Festung, in Tibet? Natürlich nicht, die Kommunisten haben sie vor vierzig Jahren in die Luft gesprengt!« Er legte bei diesen Worten die Hände aneinander und riß dann die Arme hoch, als wolle er die Explosion anschaulich machen. »Es gibt keine Mauern mehr.«
»Also kommt sie nicht aus Shigatse.«
»Unmöglich. Sie wohnt hinten im Laden, aber der Eigentümer sagt, daß sie fast jedes Wochenende nicht da ist. Eine Verkäuferin dürfte wohl kaum genug verdienen, um so häufig dreihundert Kilometer nach Shigatse zu reisen.«
»Dann lebt ihre Familie in der Nähe«, sagte Shan. Eine Familie von Ausbeinern. In den Bergen. Wo auch Tamdin der Ausbeiner lebte. »Und dort bringt sie auch die Zaubersprüche hin.« Er sah Yeshe erwartungsvoll an.
Yeshes Gesicht verfinsterte sich. »Nein«, protestierte er schwach.
»Ihr Zuhause dürfte nicht schwierig zu finden sein«, behauptete Shan. »In Lhadrung besteht eine lebhafte Nachfrage nach dem Tod.«
Tan reichte ihm mehrere Blätter Papier, die von einer Büroklammer zusammengehalten wurden. »Ich habe sie gefunden«, sagte er mit der Heiterkeit, von der ein Erfolgserlebnis begleitet wird.
»Wen?«
»Miss Lihua. Ankläger Jaos Sekretärin. Auf Urlaub in Hongkong. Das Justizministerium hat ihr Hotel ausfindig gemacht. Sie ist zum örtlichen Büro des Ministeriums gegangen und hat das dortige Faxgerät benutzt. Sie gibt an, der stellvertretende Ankläger Li habe sie zum Flughafen gefahren, bevor Jao aufgebrochen ist, um mit der Amerikanerin zu Abend zu essen. Ich kenne sie. Jung, sehr pflichtbewußt. Gutes Gedächtnis für Einzelheiten. Sie hat mir Jaos Terminplan durchgegeben, ebenso die Anrufe am Tag des Mordes. Sie hat alles gefaxt. Niemand hat wegen eines Treffens angerufen.«
Miss Lihua fühle sich geehrt, dem Oberst behilflich sein zu können, stand auf der ersten Seite geschrieben. Der Tod von Genosse Ankläger Jao habe sie zutiefst bekümmert, und sie biete an, sofort zurückzukehren. Tan hatte das Angebot abgelehnt, vorausgesetzt, sie würde per Fax kooperieren.
»Wußte sie, wie man den Fahrer ausfindig machen kann?« fragte Shan.
»Sie hat mir gesagt, wo er wohnt. Und sie hat gesagt, sie sei sich ganz sicher, daß niemand, den Jao kannte, ein Treffen an der Südklaue anberaumt habe.«
»Wie kann sie das wissen?« entgegnete Shan. »Sie hätte einen entsprechenden Anruf doch gar nicht bemerkt.«
»Jao war ein spießiger alter Hund. Er hat Anrufe niemals persönlich entgegengenommen. Und alles mußte im voraus geplant werden, oder es konnte nicht stattfinden. Miss Lihua hat über jede einzelne Stunde Buch geführt. Er sei den ganzen Tag im Büro gewesen, hat sie gesagt. Als sie gegangen ist, habe er sein Fluggepäck in den Wagen geladen. Das Büro für Religiöse Angelegenheiten hat wegen eines Komiteetreffens angerufen. Die Justizbehörde aus Lhasa hat sich nach einem überfälligen Bericht erkundigt. Außerdem hat Jao von ihr telefonisch die Bestätigung seiner Flüge einholen lassen. Ansonsten gab es an diesem Tag nur noch das besagte Abendessen.«
»Es gibt noch andere Orte und Möglichkeiten, um Anrufe zu erhalten.«
»Wir sind hier nicht in Shanghai. Er hatte kein verdammtes Mobiltelefon. Er hatte auch kein Funkgerät. Er ist an jenem Tag nirgendwo hingegangen. Und er hätte seine Pläne nicht geändert«, fügte Tan hinzu. »Er hätte es nicht riskiert, den Flug in seinen Jahresurlaub zu verpassen, nur weil irgendein Mönch ihm eine Nachricht übermittelt hat.«
»Genau. Und daher muß es jemand gewesen sein, den er kannte«, erwiderte Shan.
»Nein. Daher muß man ihn auf dem Weg zum Flughafen überfallen und dann zurück zur Klaue gefahren haben.«
»Der Weg zum Flughafen.. ist das eine Militärstraße?«
»Selbstverständlich.«
»Also kommen Transportkolonnen auf diesem Weg in das Tal. Fahren die auch nachts?«
Tan nickte langsam. »Immer wenn Vorräte oder Personen vom Flughafen hergebracht werden sollen. Und die Flüge treffen am späten Nachmittag ein.«
»Dann überprüfen Sie, ob irgendein Militärfahrer auf dem Rückweg eine Limousine bemerkt hat. Es gibt in Lhadrung nicht allzu viele Limousinen. Der Wagen wäre aufgefallen.«
Unterdessen musterte Shan die verschiedenen Faxe. Madame Ko hatte Ankläger Jaos Reiseroute hinzugefügt, die ihr direkt von der Fluglinie übermittelt worden war. »Wieso war für ihn ein Tag Aufenthalt in Peking vorgesehen? Warum ist er nicht nonstop geflogen?«
»Einkäufe. Die Familie. Es sind alle möglichen Gründe denkbar.«
Shan setzte sich und starrte zu Boden. »Ich muß nach Lhasa.«
Tans Miene verzog sich mürrisch. »Es gibt keine Verbindung mit Lhasa. Falls du auch nur eine Sekunde daran denkst, ich würde die auswärtigen Behörden... «
»Der Ankläger hatte aus unbekanntem Anlaß vor, einen Zwischenstop in Peking einzulegen. Er hat die unbekannte Nachricht einer unbekannten Person erhalten, durch die er in einen Hinterhalt gelockt wurde, wo ein weiterer Unbekannter in einem Kostüm aus unbekannter Quelle ihn ermordet hat.«
»Es gibt mehr als einen Mörder?« fragte Tan mit warnendem Unterton.
Shan ignorierte die Frage. »Wir müssen anfangen, Fragen zu beantworten, anstatt immer nur neue zu stellen. In Lhasa gibt es ein Museum für kulturelle Altertümer«, erklärte Shan. »Wir müssen wissen, wo sämtliche Tamdin-Kostüme geblieben sind.«
»Unmöglich. Ich kann dich in Lhasa nicht schützen. Es würde mich den Kopf kosten, falls man dich entdeckte.«
»Dann fahren Sie selbst. Überprüfen Sie die Aufzeichnungen des Museums.«
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