»Sie haben mir erzählt, warum man Sie von der Universität zurückgeschickt hat«, sagte Shan kurz darauf und schaute weiterhin ins Leere. »Aber Sie haben nie erzählt, warum Sie überhaupt erst auf die Universität gegangen sind.« Ermittlungen, fromme Betrachtungen, Karrieren, Beziehungen - irgendwie war sich das alles ziemlich ähnlich, überlegte er. Es ging schief, weil niemand daran dachte, die richtige Frage zu stellen.
Shan spürte, daß Yeshe auf ihn zukam, und trat ganz nach vorn an die Kante, bis seine Zehen hinaus in die Finsternis ragten.
»Es war eine Ehre, an die Universität gebeten zu werden«, sagte Yeshe mit hohler Stimme.
Ein winziger Stoß, eine leichte Bö, mehr würde nicht nötig sein. Yeshe könnte einfach nur stolpern und gegen Shan fallen, und er würde hinabstürzen. In einer Nicht wie dieser schlug man vielleicht nie auf dem Erdboden auf. Da würde nur Finsternis sein und dann eine noch tiefere Schwärze.
»Aber warum sollte man Yeshe Retang eine solche Gunst erweisen? Einem unbekannten Mönch aus einem entlegenen gompa!«
Yeshe trat neben ihn, als wolle er das gleiche Risiko wie Shan eingehen.
»Man hat in Khartok erst nach Ihrer Abreise mit dem Wiederaufbau begonnen«, hob Shan hervor. »Der chandzoe hat Sie wie einen Helden willkommen geheißen. Als würde er Ihnen etwas schuldig sein. Als hätte Khartok nach Ihrem Weggang Begünstigungen erhalten.«
»Ich habe meiner Mutter versprochen, Mönch zu werden«, sagte Yeshe zu den Sternen. »Ich war der älteste Sohn. So war die Tradition in den tibetischen Familien, bis Peking kam. Dem ältesten Sohn würde die Ehre zuteil werden, in einem Kloster zu dienen. Doch ich war kein guter Mönch. Der Abt sagte, ich dürfe nicht so stolz sein. Er wies mir eine Aufgabe in den Dörfern zu, damit ich das Leid des Volkes sehen würde. Zweimal in der Woche brachte ich mit einem Wagen kranke Kinder ins gompa.«
Hinter ihnen am Abhang ertönte der Schrei eines Ziegenmelkers.
»Er lag einfach da, neben der Straße. Ich dachte, ich könnte ihn retten. Ich dachte, ich könnte ihm vielleicht auf den Rücken klopfen, damit er die Kiesel aus dem Hals bekommt und wieder atmen kann. Ich habe es versucht. Aber er war bereits tot.«
»Soll das heißen, Sie haben die Leiche des Direktors für Religiöse Angelegenheiten gefunden?«
»Ich habe nie begriffen, warum er ganz allein dort oben war«, flüsterte Yeshe.
»Und Dilgo aus Ihrem gompa wurde deswegen hingerichtet.« Shan erinnerte sich daran, daß in den Akten einige Seiten fehlten. Zeugenaussagen.
»Als ich ihn umdrehte, lag er da. Ich habe ihn sofort erkannt.«
»Den Rosenkranz, der Dilgo gehört hat?«
Yeshe antwortete nicht.
»Demnach haben Sie als Zeuge gegen ihn ausgesagt.«
»Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich habe einen toten Chinesen gefunden. Unter dem Mann lag Dilgos Rosenkranz.«
Die Parabel war absolut perfekt. Ein gesellschaftsfeindlicher Kultanhänger wird durch die Aussage eines Mitglieds der neuen Gesellschaft überführt, das zudem noch demselben Kloster angehört. Ein Beweis dafür, wie bösartig die alte Ordnung war und wie tugendhaft die neue sein konnte. »Und zur Belohnung hat man Sie auf die Universität geschickt.«
»Wie konnte ich ablehnen? Wie oft wird einem Mönch denn schon die Universität angeboten? Sie sagten, es sei keine Belohnung. Sie sagten, mein Verhalten habe lediglich gezeigt, daß ich auf eine Universität gehöre, daß ich eine Führungspersönlichkeit sei, die schon längst dort hätte sein müssen.«
»Wer hat Ihnen dazu verhelfen?«
»Ankläger Jao, das Büro für Religiöse Angelegenheiten, die Öffentliche Sicherheit. Sie alle haben das Papier unterzeichnet.«
Das sagte nichts darüber aus, wer Jao ermordet hatte oder wer vielleicht erneut versuchte, Yeshe zu manipulieren. Die Bewilligung derartiger Belohnungen ging absolut konform mit den üblichen Praktiken des chinesischen Justizapparats. Vielleicht hatte jemand Yeshe benutzt, weil er wußte, daß der Mönch regelmäßig diese Strecke fuhr. Vielleicht war Yeshes Verwicklung in den Fall auch völlig zufällig erfolgt. Es kam einzig und allein darauf an, daß Yeshe sich als anfällig entpuppt hatte, und gegenwärtig versuchte jemand, ihn auf die gleiche Weise zu beeinflussen. Nicht Zhong. Direktor Zhong war lediglich ein Handlanger, der dabei mithalf, Yeshes Arbeit für ein weiteres Jahr sicherzustellen.
»Ich habe es vorher gesagt«, merkte Yeshe an, als sei ihm ein nachträglicher Einfall gekommen.
»Vorher?«
»Man hat mir die Universität erst lange nach meiner Aussage angeboten.«
»Ich weiß.«
»Es hieß, man würde das tun, weil ich mich als guter Bürger erwiesen hätte.« Er flüsterte wieder. »Leider weiß ich nicht mehr, was das bedeutet - ein guter Bürger zu sein«, fügte er unglücklich hinzu.
Während sie die Sterne beobachteten, schien durch ihr Schweigen der Schmerz zu entweichen.
»Nach unserem Besuch im Büro für Religiöse Angelegenheiten«, sagte Yeshe, »nachdem Miss Taring gesagt hatte, daß immer noch Artefakte gefunden werden und in den Museen landen, habe ich mich etwas gefragt. Was wäre, wenn jemand noch so einen Rosenkranz wie den von Dilgo gefunden hätte? Was wäre, wenn ich gelogen hätte, ohne es zu wissen?«
Shan legte Yeshe eine Hand auf den Arm und zog ihn sanft vom Rand der Klippe zurück. »Dann müssen Sie es herausfinden.«
»Weshalb?«
»Für Dilgo.«
Sie setzten sich auf einen Felsblock und ließen sich erneut von der Stille gefangennehmen.
»Glauben Sie, daß es wahr ist, was man sich erzählt?« fragte Yeshe.
»Was denn?«
»Daß Jaos Geist hierbleibt und nach Rache trachtet.«
»Ich weiß es nicht.« Shan sah hinaus in die Nacht. »Falls meine Seele freikäme«, sagte er langsam, »würde ich niemals zurückblicken.«
Sie wechselten kein weiteres Wort. Shan hatte keine Ahnung, wie lange sie schon dort saßen. Es konnten zehn Minuten gewesen sein, vielleicht aber auch eine halbe Stunde. Eine Sternschnuppe schoß strahlend über den Himmel. Dann ertönte genauso plötzlich ein lautes Geräusch, ein verzerrtes, gespenstisches Stöhnen und Schreien, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Es kam von irgendwo unter ihnen und schien sich durch die Haut über seiner Wirbelsäule zu bohren. Es war kein menschliches Geräusch.
Auf einmal krachten drei Pistolenschüsse. Dann herrschte absolute Stille.
Die zwei Soldaten stürzten sich wie im Traum auf ihn, packten ihn im Dunkeln, während er schlief, zerrten ihn aus dem Bett und legten ihm Handschellen an. Wortlos stießen sie ihn in den Wagen. Sie antworteten nicht auf seine ersten beiden Fragen und verabreichten ihm nach der dritten einen heftigen Schlag ins Gesicht. Shan richtete sich mühsam auf, kämpfte gegen den Schmerz an und rief sich ins Gedächtnis, worauf er achten mußte. Die Männer gehörten nicht zur Öffentlichen Sicherheit, sondern zur Infanterie. Soldaten mußten sich viel häufiger an Vorschriften halten. Er saß in einem Personenwagen, nicht in einem Laster. Man würde ihn nicht im Fahrzeug erschießen. Sie fuhren ins Tal hinaus, nicht in die Berge, wo man normalerweise Leute verschwinden ließ. Er lehnte sich gegen die Scheibe und ließ das Glas das Gewicht seines Kopfes tragen, während er beobachtete, wohin sie ihn brachten.
Es war die Kreuzung unterhalb der Drachenklauen. Oberst Tans Silhouette hob sich gegen den trübgrauen Himmel ab. Die beiden Soldaten zerrten ihn zu Tan, nahmen ihm die Handschellen ab und kehrten zum Wagen zurück, wo sie stehenblieben und sich Zigaretten anzündeten. Einer der Männer murmelte etwas. Der andere lachte.
»Er hat gesagt, daß du das tun würdest«, sagte Tan. »Zhong hat gesagt, du würdest dich über mich lustig machen und versuchen, mich zu benutzen.«
Читать дальше