»Falls ich jemanden ermorden wollte, würde ich mit Sicherheit darauf achten, daß meine Methode keine Rückschlüsse auf mich oder meine Überzeugungen zuläßt.«
Der chandzoe stand plötzlich auf. »Yeshe?« rief er. »Yeshe Retang?«
Im ersten Moment zuckte Yeshe zusammen, aber dann sah er die Begeisterung auf dem Gesicht des chandzoe und kam einen Schritt näher. »Ja, Rinpoche. Ich fühle mich geehrt, daß Sie sich an mich erinnern.«
Der chandzoe breitete wieder die Arme aus, wie am Anfang, als Shan ihn zum erstenmal auf der Treppe gesehen hatte, und forderte Yeshe mit einer Handbewegung auf, aus dem Schatten zu treten. Yeshe blieb steif stehen und warf Shan einen verunsicherten Blick zu.
Der chandzoe schaute von Shan zu Yeshe. Er war offensichtlich verwirrt.
»Meine Haftzeit ist seit kurzem vorbei, Rinpoche. Jetzt habe ich diesen Auftrag erhalten. Vorübergehend.«
Yeshe starrte Shan flehentlich an, was der chandzoe mit großem Interesse zu verfolgen schien. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit nun auf Shan und wartete, daß dieser das Wort ergreifen würde. Der befehlshabende Chinese.
»Er hat sich beispielhaft um Besserung bemüht«, hörte Shan sich selbst sagen. »Er zeigt immer wieder eine außergewöhnliche...«, er suchte nach einem Wort, »... Hingabe.«
Der chandzoe nickte befriedigt.
»Ich kann vielleicht eine Anstellung in Sichuan bekommen«, sagte Yeshe nervös.
»Warum kommst du nicht hierher zurück?«
»Meine Akte. Ich kann keine Lizenz erhalten.«
»Deine Umerziehung ist abgeschlossen. Ich könnte mit Direktor Wen sprechen.« Er klang, als sei er Yeshe irgendwie verpflichtet.
Yeshe riß überrascht die Augen auf. »Aber die Quote.«
Der chandzoe zuckte die Achseln. »Falls das ein Problem sein sollte, so gibt es keine Quote für die Anzahl der Arbeiter, die den Wiederaufbau durchführen.« Er zog Yeshes Hände auseinander und umschloß eine davon zum Gruß. »Bitte, komm mit und schau dir die neuen Gebäude an«, sagte er und zog Yeshe in Richtung der Versammlungshalle. Langsam und mit winzigen Schritten, die den Eindruck erweckten, er würde gegen eine unsichtbare Macht ankämpfen, ging Yeshe auf die Halle zu. Unterdessen sah Shan einen weiteren Mönch auf den Stufen, der Yeshe anschaute. Seine Hände bildeten ein mudra, das auf Yeshe gerichtet zu sein schien.
Verwirrt drehte Yeshe sich zu Shan um. Shan nickte, und die beiden Männer gingen über den Hof davon.
Der Abt schaute dem chandzoe mit regloser Miene hinterher, seufzte dann und wandte sich Shan zu. »Sie setzen voraus, daß Mörder lügen«, sagte er, als hätte er die Unterbrechung gar nicht bemerkt. »Dilgo würde niemals lügen. Das wäre eine Verletzung seiner Gelübde gewesen.«
»Also hat er den Mord tatsächlich verübt?« fragte Shan.
Der Abt antwortete nicht.
»Ein Mord hätte eine weitaus ernstere Verletzung seiner Gelübde dargestellt«, hob Shan hervor.
Der Abt trank seinen Tee aus und tupfte sich den Mund mit dem Ärmel seines Gewands ab. »Beides ist durch die 235 Regeln untersagt«, erklärte er und bezog sich dabei auf die Verhaltensmaßregeln, die für ordinierte Priester galten.
»Ich bin verwirrt«, sagte Shan. »Diejenigen, die ihre Gelübde verletzen, werden als niedere Lebensformen wiedergeboren. Wie Sie bereits gesagt haben, ist er nach Ihrer Überzeugung aber als Mensch zurückgekehrt.«
»Ich bin ebenfalls verwirrt. Was genau wollen Sie von uns?«
»Eine einfache Antwort. Glauben Sie, daß Dilgo den Direktor für Religiöse Angelegenheiten ermordet hat?«
»Die Regierung hat Gebrauch von ihrer Autorität gemacht. Dilgo hat keine Einwände erhoben. Der Fall wurde abgeschlossen.«
Weshalb überraschte ihn die Erkenntnis, dachte Shan, daß das Oberhaupt eines aufstrebenden gompa zugleich auch ein Politiker war? »Hat er es getan?«
»Jeder verfolgt einen anderen Weg zur Buddhaschaft.«
»Hat er es getan?«
Der Abt seufzte und blickte zu einer vorüberziehenden Wolke empor. »Eher würde der Berg Kailas unter dem Gewicht eines einzigen Vogels im Erdboden versinken, als daß Dilgo eine solche Tat verübt hätte.«
Shan nickte ernst. »Es hat sich noch ein solcher Vogel in die Lüfte erhoben.«
Der Abt sah ihm in die Augen. Er wirkte bekümmert.
»Denken Sie je darüber nach, woraus die Sünde besteht?« fragte Shan.
»Ich verstehe nicht.«
»Für die Regierung ist es einfach, denn auf diese Weise hält sie sich an der Macht. Die Gefahr ist ein Teil der Macht, so wie der Schatten zum Licht gehört. Manchmal, wenn keine Bedrohung existiert, muß eine erfunden werden. Und für Sie ist es genauso einfach, eine Rechtfertigung für das zu finden, was Dilgo widerfahren ist. Sie sind vermutlich zu dem Schluß gelangt, daß es ebenso in der Natur der Dinge liegt wie die Flutwelle von Soldaten, die 1959 über die Klöster hereingebrochen ist. Es war sein Schicksal, können Sie sagen, und außerdem wird Dilgo in ein besseres Leben geboren. Aber für alle anderen ist es nicht so einfach.«
Der Abt sah ihm nicht länger in die Augen.
»Haben Sie Dilgo ausgestoßen?«
»Nein.«
»Er wurde des Mordes überführt, aber Sie haben ihn nicht verstoßen. Statt dessen haben Sie für ihn die Bardo-Riten abgehalten.«
Der Abt schaute in seine Hände.
Shan zog den Notizblock zu Rate. »Man hat am Tatort einen Rosenkranz gefunden, einen ziemlich außergewöhnlichen Rosenkranz. Die Perlen waren wie winzige Kiefernzapfen geschnitzt und bestanden aus rosafarbener Koralle mit Anzeigerperlen aus Lapislazuli. Sehr alt. Muß aus Indien gestammt haben. Laut der Akte handelte es sich um ein Einzelstück, wie es nicht noch einmal vorkommt.«
»Das war sein Rosenkranz«, bestätigte der Abt. Seine Stimme wurde sehr leise. »Es war der ausschlaggebende Beweis gegen ihn.«
»Hat er erklärt, wie die Gebetskette dorthin gelangt war?«
»Er konnte es nicht erklären.«
»Hat er den Rosenkranz verloren?«
»Nein. Er hat ihn nicht einmal vermißt. Genaugenommen hat er gesagt, der Rosenkranz habe sich bei der Verhaftung, als man ihn schlafend von seinem Lager riß, noch in seinem Besitz befunden. Vielleicht war es ein Wunder, und die Kette ist irgendwie dorthin und wieder zurück transportiert worden. Dilgo hat gesagt, es sei womöglich eine Botschaft.«
»Warum hat er nicht protestiert?« fragte Shan. »Wieso hat er nichts zu seiner Verteidigung unternommen? Wenn Sie wußten, daß er unschuldig war, weshalb haben Sie ihn dann nicht verteidigt?«
»Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan.«
»Alles?« Langsam zog Shan die Akte aus der Leinentasche, die er bei sich trug, und ließ sie zwischen ihnen auf die Bank fallen. Er hatte die Aussage gelesen, die für den Abt vorbereitet worden war. Der Abt hatte die Gewalttat verurteilt und sich im Namen des gompa und der Kirche entschuldigt.
Der Abt starrte die Akte an und blickte dann auf, ohne zu blinzeln. »Alles.«
Es war nicht richtig von ihm, bei irgendeinem der Leute Schuldgefühle zu erwarten, erkannte Shan. Alle Beteiligten des Dramas um Dilgo, vom Abt bis zu Ankläger Jao, ja sogar bis zu dem Beschuldigten, hatten ihre Rollen einwandfrei gespielt.
Der Abt stand auf und wollte wieder zu seinem Unkraut zurückkehren.
»Dann verraten Sie mir bitte folgendes«, sagte Shan zu seinem Rücken. »Haben Sie gehört, daß sich am Tatort ein buddhistischer Dämon befunden haben soll?«
Der Abt drehte sich stirnrunzelnd um. »Die alten Überlieferungen halten sich hartnäckig.«
»Demnach ist Ihnen tatsächlich ein solches Gerücht zu Ohren gekommen?«
»Immer wenn ein hoher Beamter stirbt, werden manche behaupten, irgendein Dämon oder Geist hätte Rache geübt.«
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