Der Lama musterte die neugierigen jungen Mönche, die sich neben dem Wagen versammelten. Eine tadelnde Handbewegung ließ sie auseinanderlaufen. Im selben Moment ertönte aus dem Innern der Halle der tiefe Klang einer Glocke, woraufhin der Hof sich leerte.
»Werden Sie an unserer Unterweisung in sunyata teilnehmen?« fragte er Shan und Yeshe. Er schien ein wenig zu lächeln, aber seine Worte klangen spöttisch. Sunyata war eines der fünf Pflichtfächer jedes Mönches; es war das Studium der Leere, der Nichtexistenz. Shan schaute dem Lama hinterher, der in dem nächsten Durchgang verschwand. Der Mann hatte auf jede von Shans Fragen mit einer Gegenfrage reagiert und sich dann abgewandt, ohne auf eine Antwort zu warten.
Shan ließ den Blick über den inzwischen menschenleeren Hof schweifen. Ohne sich zu Feng oder Yeshe umzudrehen, stieg er die Stufen in die lhakang empor. Drinnen folgte er einem schmalen Gang, der eine weitere Treppe hinaufführte und in einer großen leeren Kammer endete, die von Butterlampen erhellt wurde. Shan entzündete ein Weihrauchstäbchen und nahm im Lotussitz vor dem Altar Platz. Die lebensgroße Bronzestatue von Maitreya Buddha, der als der zukünftige Buddha bekannt war, dominierte den Raum. Vor der Statue standen die sieben traditionellen Opferschalen, drei mit Wasser, eine mit Blumen, eine mit Weihrauch, eine mit Butter und eine mit duftenden Kräutern.
Schweigend verharrte er einige Minuten, nahm dann einen Besen, der an der Rückwand der Halle lehnte, und fing an zu fegen.
Ein silberhaariger Priester erschien und entzündete ein Butteropfer, das wie eine kleine Turmspitze geformt war. »Das ist nicht notwendig«, sagte er und nickte in Richtung des Besens. »Dies ist nicht Ihr Kloster.«
Shan lehnte sich auf den Besen. »Als ich jung war«, sagte er, »hörte ich von einem Tempel hoch in den Bergen an der Küste, wo angeblich die Weisheit der ganzen Welt zu finden war. Eines Tages gelangte ich zu dem Schluß, ich müsse diesen Tempel besuchen.«
Er fegte kurz weiter und hielt dann wieder inne. »Auf halber Strecke nach oben bin ich irgendwie vom Weg abgekommen. Ich traf einen Mann, der eine große Holzlast auf dem Rücken trug. Ich sagte, ich würde nach dem Tempel der Heiligen suchen, um dort zu mir selbst zu finden. Er erzählte mir, daß ich den Tempel gar nicht brauchte und daß er mir alles beibringen würde, was ich wissen müsse. Und jetzt paß auf, sagte er. Dann stellte er seine Last auf dem Boden ab und richtete sich gerade auf.
Aber was mache ich, wenn ich nach Hause gehe, fragte ich. Ganz einfach, sagte er. Wenn du nach Hause gehst, machst du das hier - und er lud sich die Last wieder auf die Schultern.«
Der alte Priester lächelte, nahm sich ebenfalls einen Besen und leistete Shan beim Fegen Gesellschaft.
Als Shan wieder nach draußen kam, ging er zum Tor hinaus und folgte einem Pfad, der entlang der Außenmauer verlief. Nach der Hälfte der Strecke stieß er auf einen Weg, der auf die oberhalb des gompa gelegenen Hänge führte. Das Gras auf beiden Seiten der Strecke war kürzlich von den Rädern eines schweren Fahrzeugs niedergewalzt worden.
Zehn Minuten später erreichte er eine Lichtung, auf der das Fahrzeug abgestellt worden war, weil das felsige Terrain kein weiteres derartiges Vordringen zuließ. Er kletterte höher hinauf. Der Pfad begann sich zu winden, führte um windgeformte Felsen herum und schmiegte sich an den Rand einer steilen Klippe. Dann überbrückte er auf zwei zusammengezurrten Baumstämmen einen tiefen Abgrund. Schließlich endete der Weg an einer großen Wiese. Ein Teppich aus winzigen gelben und blauen Blumen führte zu einem kleinen Steingebäude, das direkt an der Felswand errichtet worden war. Ein Rabe krächzte. Shan drehte sich um und sah, wie der schwarze Vogel, der für Weisheit und Glück stand, kaum dreißig Meter von ihm entfernt in den Abgrund glitt. Unter dem Vogel lag die ganze Welt. Vom gegenüberliegenden Hang stürzte ein Wasserfall in den Nadelwald; dahinter schimmerte wie ein Juwel ein kleiner See. Nach Süden erstreckte das Tal sich kilometerweit ohne jegliches Anzeichen menschlicher Besiedlung. Über dem Paß, den sie in der Morgendämmerung überquert hatten, schwebte eine einzelne Wolke.
Das Geräusch von Schritten störte die Idylle. Feng und Yeshe würden gleich hier sein. Shan ging zu dem Gebäude.
Auf die Tür, die schon bei der leisesten Berührung nach innen schwang, hatte man ein kleines Ideogramm gemalt, das von der Sonne, einer Mondsichel und einer Flamme gekrönt wurde. Der erste Raum wirkte wie eine zwar karge, aber dennoch liebevoll eingerichtete Kammer. In einer Blechdose unter dem Fenster standen frische Blumen. Die zweite Kammer hatte keine Fenster. Als Shans Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er ein Strohlager, einen Schemel, Schreibgeräte und mehrere Kerzen. Er zündete eine davon an und stellte fest, daß er sich nicht in einem Zimmer, sondern in einer Höhle befand.
Von draußen hörte er ein Geräusch. Er löschte das Licht und kehrte ins Freie zurück. Die Wiese war leer. Über ihm erklang ein überraschtes Murmeln. Er blickte hoch und sah einen kleinen, untersetzten Mann, der mit einem Mund voller Nägel auf dem Dach lag. Der Kopf des Mannes ruckte zur Seite, und dann betrachtete er Shan mit dem dumpfen, neugierigen Blick eines Eichhörnchens. Plötzlich spuckte er die Nägel aus, packte die Dachkante, zog sich nach vorn und landete zu Shans Füßen.
Er stand nicht auf, sondern streckte einen Finger aus und tippte gegen Shans Bein, als wolle er sich von der Echtheit des Fremden überzeugen.
»Sind Sie gekommen, um mich zu verhaften?« fragte er und erhob sich. Er klang seltsam hoffnungsvoll.
Sein flaches, hellhäutiges Gesicht war nicht tibetischer Abstammung.
»Ich bin wegen Sungpo gekommen.«
»Ich weiß. Ich habe darum gebetet.« Der Mann streckte die Arme aus, als würde man ihm gleich Handschellen anlegen.
»Ist das hier Sungpos Klause?«
»Ich bin Jigme«, sagte der Mann, als sollte Shan ihn kennen. »Ißt er?«
Shan musterte die merkwürdige Kreatur. Der Mann wirkte irgendwie zurückgeblieben. Die Hände und Ohren waren zu groß für den Körper, und seine Lider hingen schlaff herab wie die eines traurigen, müden Bären. »Nein. Er ißt nicht.«
»Das habe ich auch nicht vermutet. Manchmal muß ich seinen Tee gegen Brühe austauschen. Hat er es trocken?«
»Er hat Stroh und ein Dach über dem Kopf.«
Der Mann namens Jigme nickte billigend. »Manchmal fällt es ihm schwer, sich daran zu erinnern.«
»Woran?«
»Daß er noch immer nur ein Mensch ist.«
Yeshe und Feng tauchten neben Shan auf. Jigme murmelte eine Begrüßung. »Ich bin bereit«, sagte er mit eigenartig fröhlicher Stimme. »Ich muß nur noch abschließen. Und etwas Reis für die Mäuse zurücklassen. Wir lassen den Mäusen immer etwas zu essen da. Master Sungpo liebt die Mäuse. Er kann vielleicht nicht mit dem Mund lachen, aber er lacht mit den Augen, wenn die Mäuse ihm aus der Hand fressen. Es kommt direkt aus dem Herzen. Haben Sie ihn lachen gesehen?«
Als niemand darauf antwortete, zuckte Jigme die Achseln und wollte in die Hütte gehen.
»Wir sind nicht hergekommen, um Sie abzuholen«, sagte Shan. »Ich habe bloß ein paar Fragen.«
Jigme blieb stehen. »Sie müssen mich mitnehmen«, sagte er und riß beunruhigt die Augen auf. »Ich hab's getan«, fügte er dann in verzweifeltem Tonfall hinzu.
»Was?«
»Was auch immer er gemacht hat, ich habe es auch getan. So sind wir eben.« Er ließ sich zu Boden sinken und umschlang seine Knie mit den Armen.
»Wie oft verläßt Sungpo die Hütte?«
»Jeden Tag. Er geht zum Rand der Klippe und setzt sich dort jeden Morgen für zwei oder drei Stunden hin.« Jigme fing an, sich vor und zurück zu wiegen.
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