Sergeant Feng verringerte das Tempo. »Vermutlich gibt es hier heißen Tee«, sagte er und nickte in Richtung der Gebäude. »Vielleicht kann man uns dort den Weg nach Saskya etwas genauer beschreiben. Ich kenne diese Straße nicht und...«
»Nein«, unterbrach Yeshe ihn ungewöhnlich grob. »Wir haben nicht genug Zeit. Fahren Sie weiter, ich kenne Saskya. Noch etwa dreißig Kilometer die Straße entlang, vor den hohen Klippen am Ende des Tals.«
Feng grunzte nichtssagend und fuhr weiter.
Knapp eine Stunde später bogen sie auf Yeshes Anweisung auf einen unbefestigten Weg ein, der in einen Wald aus Zedern und Rhododendren führte. Nach einigen Minuten kam ein langer Wall aus Steinen in Sicht, der quer zur Straße verlief und im Dickicht verschwand. Shan hob die Hand, damit Feng anhielt. Dann stieg er aus, lief zu dem Wall und blieb davor stehen. Da war etwas, das er wiedererkannte, obwohl er noch nie zuvor hier gewesen war. Irgendwo in der Nähe ertönte leise eine tsingha, die kleine Handzimbel, die bei buddhistischen Riten verwendet wurde.
Shan verspürte einen Anflug von Aufregung. Er hatte diesen oder einen ganz ähnlichen Ort doch schon einmal besucht, und zwar in den Wintergeschichten der alten Yaks. Langsam gaben seine Beine nach, und einen Moment lang kniete er und legte die Hände auf die Steine. Dann fing er an, den Staub von den Blöcken abzuwischen. Er nahm erst einen, dann noch einen und noch einen. Sie waren von Menschenhand behauen worden, und auf jedem fand sich eine tibetische Inschrift, die man entweder mit einem Pinsel aufgetragen oder unbeholfen in die Oberfläche gemeißelt hatte. Er befand sich inmitten einer mani-Mauer aus mit Gebeten versehenen Steinen, einem jener Wälle, die im Verlauf vieler Jahrhunderte von frommen Besuchern und Pilgern errichtet worden waren. Jeder der Steine war einzeln und von weit her zum Ruhme Buddhas mitgebracht worden. Ein mani-Stein, so hieß es, führte das Gebet fort, wenn der Pilger wieder gegangen war. Shan schaute sie an, wie sie sich, so weit er blicken konnte, in den Wald erstreckten, die vermodernden, moosbedeckten Gebete vieler Generationen.
Trinle hatte einst heftige Prügel bezogen, weil er aus der Arbeitskolonne ausgeschert war, um einen solchen Stein aufzuheben, der oberhalb von ihnen herrenlos auf dem Hang lag. »Weshalb hast du die Schlagstöcke riskiert?« hatte Shan ihn gefragt, während Trinle das Moos abkratzte, um das Gebet freizulegen.
»Weil dies vielleicht das Gebet ist, das die Welt verändert«, hatte Trinle fröhlich erwidert.
Shan wischte vorsichtig sechs der Gebetssteine sauber, legte drei davon in einer Reihe aus, darauf dann die nächsten zwei und den letzten als oberste und dritte Schicht. Der Anfang eines neuen Walls.
Er ignorierte Fengs finsteren Blick und ging vor dem langsam fahrenden Wagen den Weg entlang. Der Klang der tsingha schwebte wieder durch die Luft, und eine hohe Mauer kam in Sicht. Die Risse, die Fugen und die scheckige Bemalung der Wand zeugten von schweren Prüfungen und Überlebenskämpfen. Die Mauer war öfter beschädigt, wiederaufgebaut und geflickt worden, als Shan ermessen konnte. Die unebene Oberfläche, die teils aus Stuck und Mörtel, teils aus blankem Fels bestand, war mit einem halben Dutzend weißer und gelbbrauner Flecken übermalt worden.
Zu beiden Seiten der Wand türmten sich Ruinen auf, zerklüftete Steinhaufen, die von Kletterpflanzen überwuchert waren, sowie geborstene und verkohlte Balken, auf denen Flechten und Moose wuchsen. Er erkannte, daß die Wand früher einmal den Innenhof eines weitaus größeren gompa begrenzt hatte. Das Tor stand offen und hing schief in den Angeln. Es waren mehrere Novizen zu sehen, die den Hof fegten. Ihre Besen bestanden aus langen Stöcken, an die man Binsen gebunden hatte.
Shan musterte die Szenerie mit ungeahnter Freude. Die Gebäude waren ihm aus den mündlichen Überlieferungen der 404ten vertraut, aber nichts hatte ihn auf die umfassende, kraftvolle Präsenz eines bewohnten gompa vorbereitet.
In der Mitte des Hofs stand ein riesiger Bronzekessel, der so verbeult und abgenutzt war, daß das darauf befindliche Antlitz Buddhas wie das Gesicht eines narbigen Kriegers aussah. Zwei Mönche waren eifrig damit beschäftigt, das Gefäß zu polieren.
Es handelte sich um eines der größten Räucherfässer, die Shan je gesehen hatte. Schwelender Wacholder stieg in dünnen Schwaden daraus hervor.
Einige niedrige Gebäude verliefen entlang der Wand zu beiden Seiten des Tors ungefähr halb um den Hof herum. Dies waren die Unterkünfte der Mönche. Ihre Dächer hatte man aus sich teilweise überdeckenden, flachen Felsplatten gefertigt, und die Wände bestanden aus wiederverwerteten Steinen und Holzstücken. Das alles sah verdächtig nach einer amtlich unerlaubten Konstruktion aus. Was hatte Direktor Wen ihnen erzählt? Jao hatte den Aufbauantrag von Sungpos gompa abgelehnt und es dadurch von den offiziellen Materialquellen abgeschnitten.
Die anderen Gebäude wirkten genauso zusammengestückelt, aber irgendwie majestätischer. Links, am Ende einer kleinen Treppe und hinter einer Veranda aus dicken Balken befand sich die dukhang, die Versammlungshalle, in der die Mönche unterwiesen wurden. Rechts stand ein ähnliches Bauwerk, auf dessen überdachtem Vorbau eine mannshohe Gebetsmühle senkrecht emporragte. Ein Mönch drehte sie langsam, und jede Umdrehung vervollständigte das Gebet, das auf ihre Seitenfläche geschrieben war. Hinter der Mühle versperrte eine hellrot gestrichene Flügeltür den Zugang zur lhakang, der Halle der Hauptgottheit. Auf die Außenwand hatte man oberhalb der Halle ein kreisförmiges Mandala gemalt, das den heiligen Pfad repräsentierte, das Rad von Dharma. Links und rechts davon war je ein Reh abgebildet, um an Buddhas erste Predigt in Indien zu erinnern.
Zwischen den beiden Gebäuden stand auf einer quadratischen Grundplatte ein großer Chorten, ein kuppelförmiger Schrein aus Mörtel, auf dem mehrere Platten abnehmender Größe lagen. Über den Platten befand sich ein walzenförmiger Aufsatz mit einer konischen Spitze. Zum Loshar, dem Tag des Neujahrsfestes, hatte Trinle einst einen winzigen Chorten aus Holzresten zusammengebaut und es gerade noch geschafft, Shan die spirituelle Symbolik zu erklären, bevor Leutnant Chang sich den Schrein griff und zertrat. Ein Chorten besaß dreizehn Ebenen, die den dreizehn traditionellen Stufen auf dem Weg zur Buddhaschaft entsprachen. Die Spitze des Chorten wurde von einer Sonne und einer Mondsichel gekrönt, die aus Eisen gefertigt waren. Die Sonne stand für Weisheit, der Mond für Mitleid.
Auf den runden, walzenförmigen Teil waren als Symbol für den stets wachsamen Buddha zwei große Augen aufgemalt.
Shan betrat den Hof, während hinter ihm der Wagen anhielt. Die Novizen hielten inne und verneigten sich tief, als sie ihre drei Besucher sahen. Shan folgte dem Blick eines der Mönche zur Tür der Versammlungshalle. Ein Lama mittleren Alters erschien.
»Bitte verzeihen Sie die Störung«, sagte Shan leise, als der Lama näher kam. »Dürfte ich mit jemandem über den Einsiedler Sungpo sprechen?«
Dem Lama schien diese Frage keine Antwort wert zu sein. »Was ist der Zweck Ihres Besuchs?«
»Ich möchte den Lehrer Sungpos finden.«
Das Gesicht des Mannes straffte sich. »Und was wirft man seinem Guru vor?«
Yeshe trat neben Shan. »Das ist nicht der kenpo«, flüsterte er, ohne den Kopf zu bewegen. »Er ist der chotrimpa.«
Shan blickte auf und versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Der kenpo, der Abt, hatte beschlossen, nicht mit Shan zu reden. Er hatte den Lama geschickt, der für die Klosterdisziplin zuständig war.
Shan wandte sich wieder an den Lama. »Sungpo ist bei uns. Seine Zunge ist es nicht. Ich erbitte respektvoll eine Audienz bei seinem Guru.«
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