»Ich muß Balti finden«, sagte Shan zu dem Oberst. »Falls er verschwunden ist, dann wegen jener Nacht.«
»Du hast Li doch gehört. Vermutlich ist er inzwischen schon längst in Sichuan.«
»Sie haben oben seine Kleidung gesehen, seine kompletten Sachen, in diesem Karton. Er hat nicht gepackt. Er hatte nicht vor abzureisen. Berücksichtigen Sie außerdem folgendes: Wie weit würde der Mann, der in dieser Kammer gewohnt hat, Ihrer Meinung nach wohl kommen, ohne Reisepapiere und in einem gestohlenen Regierungsfahrzeug?«
»Dann hat er den Wagen eben verkauft.« Tan machte einen Schritt auf das Kind zu.
»Das ist nur eine der denkbaren Möglichkeiten. Er hätte in das Verbrechen verwickelt gewesen sein können. Vielleicht ist er aber auch ermordet worden. Oder womöglich ist er voller Angst geflohen und versteckt sich jetzt.«
Das Kind sah Tan an und lachte.
»Aus Angst vor deinem Dämon«, sagte Tan.
»Oder aus Angst vor einer Vergeltungsmaßnahme, und zwar von jemandem, den er in dieser Nacht erkannt hat«, erwiderte Shan.
Tan hielt inne und dachte über Shans Einwände nach. »Wie auch immer, er ist weg. Daran kann man nichts ändern.«
»Ich kann mit den Nachbarn reden. Ich vermute, daß er schon ziemlich lange hier gelebt hat. Die Leute aus der Nachbarschaft haben ihn bestimmt gekannt.«
»Nachbarschaft?« Tan ließ den Blick über die Stapel leerer Ölkanister, die Haufen aus Altmetall und die baufälligen Schuppen schweifen, von denen die Garage umgeben wurde.
»Hier leben Menschen«, sagte Shan.
»Gut, machen wir uns an die Befragung. Ich möchte meinen Ermittler mal bei der Arbeit erleben.«
Jemand rief etwas aus der Gasse. Das Kind reagierte nicht.
Tan streckte dem Kind eine Hand entgegen. Plötzlich tauchten drei Männer auf, stämmige Hirten, die ihre langen Stäbe vor sich hielten, als wollten sie einen Kampf anfangen. Sofort standen Sergeant Feng und Tans Fahrer an der Seite des Oberst und legten die Hände auf die Waffen.
Eine kleine, dicke Frau drängte sich zwischen den Männern hindurch und stieß einen beunruhigten Schrei aus. Sie packte das Kind und herrschte die Männer zornig an, die sich daraufhin langsam zurückzogen.
Tans Miene verhärtete sich. Schweigend zündete er sich eine Zigarette an und musterte die Gasse. »Also gut. Du machst das allein. Ich werde weitere Patrouillen zum Fuß der Südklaue schicken. Laß uns zuerst die wahrscheinlichste Erklärung überprüfen. Wir halten nach seiner Leiche Ausschau. Das Gebiet unterhalb der Klippe wurde bereits auf der Suche nach dem Kopf überprüft, aber der Körper des Fahrers könnte sonstwo liegen. Vielleicht im Drachenschlund.«
Nachdem Tan losgefahren war, bat Shan den Sergeanten, er möge ihren Wagen im Schutz der Garage abstellen. Dann setzten er und Yeshe sich auf zwei rostige Fässer im Werkstatthof.
»Haben Sie Li davon erzählt, daß ich herkommen würde?« fragte Shan, während die Nachbarschaft langsam wieder zum Leben erwachte. »Irgend jemand hat ihn benachrichtigt. Genau wie bei Jaos Haus.«
»Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Wenn man mich danach fragt, wie könnte ich dann dem Justizministerium die Auskunft verweigern?« entgegnete Yeshe.
»Hat man Sie gefragt?«
Yeshe antwortete nicht.
»Auf dem Felsen in Sungpos Höhle, unter dem Jaos Brieftasche entdeckt wurde, hat sich eine Markierung befunden. Jemand hat das Beweisstück dort plaziert, damit das Verhaftungsteam es finden würde.«
Yeshes Gesicht umwölkte sich. »Warum erzählen Sie mir das?«
»Weil Sie sich entscheiden müssen, wer Sie sein wollen. Priester reagieren sehr unterschiedlich auf das Gefängnis. Manche werden immer Priester sein. Andere werden immer Häftlinge sein.«
Yeshe wandte sich mit wütendem Blick zu ihm um. »Soll das heißen, ich bin ein Ungläubiger, wenn ich die Fragen des Justizministeriums beantworte?«
»Ganz und gar nicht. Ich will lediglich sagen, daß bei denjenigen, die zweifeln, das Verhalten allmählich die Überzeugungen bestimmt. Ich sage Ihnen, daß Sie entweder akzeptieren müssen, auf ewig ein Gefangener von Männern wie Direktor Zhong zu bleiben, oder daß Sie beschließen müssen, es nicht einfach hinzunehmen.«
Yeshe stand auf und warf einen Kiesel gegen die Wand. Dann entfernte er sich ein Stück von Shan.
Eine alte Frau tauchte auf, warf ihnen einen gehässigen Blick zu und breitete eine Decke am Straßenrand aus, auf der sie ein paar Streichholzschachteln, Eßstäbchen und Süßigkeiten hinlegte, was ihren gesamten Warenbestand darstellte. Aus ihrem Kleid zog sie eine alte Fotografie hervor, hielt sie sich an die Stirn und legte sie dann vor sich auf die Decke. Es war ein Foto des Dalai Lama. Drei Jungen begannen ein Spiel, indem sie versuchten, mit Kieseln in einen alten Reifen zu treffen. In dem Haus gegenüber der Garage öffnete sich ein Fenster, aus dem jemand ein Bambusrohr schob, an dem Wäsche zum Trocknen aufgehängt war, die nun wie eine Reihe Gebetsfahnen über der Straße hing.
Shan sah dem Treiben fünf Minuten lang zu, wählte dann eine Rolle Süßigkeiten aus dem Sortiment der Frau aus und bat Yeshe, dafür zu bezahlen. »Die Störung tut mir leid«, sagte er. »Der Mann, der hier gewohnt hat, wird vermißt.« »Verdammter dummer Junge«, erwiderte sie.
»Sie kennen Balti?«
»Geh zum Gebet, habe ich gesagt. Erinnere dich daran, wer du bist, habe ich gesagt.«
»Hat er denn ein Gebet gebraucht?« fragte Shan.
Sie wandte sich an Yeshe. »Sag es ihm«, entgegnete sie. »Sag ihm, daß nur die Toten keine Gebete brauchen. Abgesehen von meinem toten Mann«, fügte sie seufzend hinzu. »Mein Mann war ein Spitzel. Betet für ihn. Er ist zu einem Nagetier geworden. Abends kommt er zu mir, und ich füttere ihn mit ein wenig Getreide. Der alte Narr.«
Einer der Hirten, der nach wie vor seinen Stab bei sich trug, ging zu der Frau und flüsterte ihr etwas zu.
»Du sei ruhig!« herrschte die Witwe ihn an. »Erst wenn du so reich bist, daß keiner von uns mehr arbeiten muß, lasse ich mir von dir vorschreiben, mit wem ich rede und mit wem nicht.«
Sie holte fünf Zigaretten hervor, die in Seidenpapier gewickelt waren, und legte sie sorgfältig vor sich auf die Decke. Dann nahm sie Yeshe genauer in Augenschein. »Bist du derjenige?«
»Derjenige?« fragte Yeshe einfältig.
»Ich habe im Tempel ein Gebet hinterlassen. Damit die Teufel vertrieben werden. Jemand wird kommen. Es ist möglich. Früher hat es Priester gegeben, die dazu in der Lage waren. Mit nur einem einzigen Laut konnten sie es vollbringen. Falls du ein Geräusch von dir gibst, das bis in die nächste Welt vernommen wird, kann dadurch alles wieder in Ordnung gebracht werden.«
Yeshe sah die Frau verwirrt an. »Wieso glauben Sie, daß ich diese Person sein könnte?«
»Weil du gekommen bist. Du bist der einzige Gläubige, der gekommen ist.«
Yeshe warf Shan einen beunruhigten Blick zu. »Wissen Sie, wo der khampa ist?« fragte er die Frau.
»Er hat schon immer gesagt, daß man ihn eines Tages holen würde. Er hat uns sogar dafür bezahlt, daß wir aufpassen. Nachts, wenn er ihn mit nach Hause brachte, haben mein Mann und ich stets die Treppe im Auge behalten. Wir haben extra tagsüber geschlafen, damit wir nachts Wache halten konnten.«
»Wen oder was hat er denn mitgebracht?« fragte Yeshe.
»Den Koffer. Den kleinen Koffer. Mit Unterlagen. Er hat immer einige Nächte lang für seinen Chef darauf aufgepaßt. Große Geheimnisse. Am Anfang war er ganz stolz deswegen. Später hatte er Angst. Trotz des Verstecks hatte er Angst.«
»Was für Unterlagen? Haben Sie sie gesehen?« fragte Yeshe.
»Natürlich nicht. Ich arbeite doch wohl kaum für die Regierung, oder? Gefährliche Geheimnisse. Worte der Macht. Regierungsgeheimnisse.«
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