Ludwig Bechstein - Die schönsten Märchen

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Da brachte eines Abends die Alte wieder zwei wunderschöne Kinder geführt, einen Knaben und ein Mädchen, denen sah man an, daß es Geschwister waren und reicher Leute Kinder; beide hatten sich im Walde verirrt, waren von der Alten gefunden und nach ihrem Hause mitgenommen worden, und sie hatte ihnen gesagt, sie wolle sie zurück zu den Eltern bringen. Die Kinder sahen sich schrecklich getäuscht, als die Alte ihnen ihre schönen Kleider auszog, ihnen dafür Lumpen anlegte und sie in ein dunkles Kämmerchen einsperrte. Doch bekamen sie einen ganzen Topf voll Hirschmilch zu essen, welche gut schmeckte, und ein Stück schwarzes Brot dazu, welches weniger gut schmeckte, aber endlich doch auch verzehrt wurde.

Am andern Morgen humpelte die Alte schon frühzeitig in den Wald und winkte den Hirschkühen. Da war eine Hirschfamilie, welche die Alte besonders gut kannte und schätzte, bestehend aus dem Herrn Hirsch, der Frau Hirschin und zwei jungen Kälbchen, die hielten sich immer treulich im Walde zusammen, waren aber doch in steter Furcht vor der bösen Alten, welche machen konnte, daß sie alle still stehen mußten, und mußten sich von der bösen Hexe die Muttermilch nehmen lassen, so daß die Kälbchen sich nicht satt trinken und nicht fett werden konnten. Könnt ich dir nur einmal mein Geweih durch den dürren Leib rennen! dachte oft der Hirsch, und die Hirschin hatte auch keine guten Wünsche für die Alte — es half aber ihr Wünschen allen beiden nichts. Während die Alte im Walde war, schlich Käthchen zu dem Kämmerlein und sah durch eine Ritze in der Tür die armen gefangenen Kinder, welche seufzten und weinten, in großem Herzeleid. Da fragte Käthchen: »Wer seid ihr denn, ihr armen Kinder?«

»Wir sind eines Königs Kinder! O mache uns frei, mein Vater wird es dir lohnen!« sprach der Königsprinz.

»Und meine Mutter auch«, sagte die kleine Prinzessin, indem sie hinzufügte: »Du sollst auch unsre gute Schwester sein und sollst bei mir im seidnen Bettchen schlafen, und ich will dir gar schöne goldne Kleider geben, hilf uns, hilf uns nur!«

Da sagte Käthchen: »Seid nur geduldig, liebe Königskinder; ich will schon zusehen und darauf sinnen, daß ich euch befreie.«

Am andern Morgen in aller Frühe machte das gute Käthchen ein Zauberstück. Sie verließ eilig ihr Lager, hauchte hinein und sagte leise:

»Liebes Bettchen, sprich für mich,
Bin ich weg, sei du mein Ich!«

So auch hauchte sie auf ihre Lade, auf die Treppe und auf den Herd in der Küche und sprach das nämliche Sprüchlein. Darauf ging sie an das wohlverwahrte Kämmerlein der Königskinder, hielt eine Springwurzel, welche die Alte auf dem Kannrück liegen hatte, an das Schloß und sagte:

»Riegel, Riegel, Riegelein,
Öffne dich, laß aus und ein!«

Da sprangen gleich Schloß und Riegel auf, und Käthchen führte alsbald die Königskinder hinweg und in den Wald hinein.

Als die Alte aufwachte, rief sie: »Käthchen, stehe auf und schüre Feuer an!« — Da rief es aus dem Bettchen:

»Ich bin schon auf und munter!
Ich komme gleich in die Küche hinunter!«

Die Alte blieb nun noch liegen, doch da sie nach einer Weile nichts hörte, rief sie wieder: »Käthchen! Wo bleibt denn das faule Ding?«

»Gleich!« rief es von der Lade:

»Ich sitze auf der Lade
Und binde das Strumpfband über die Wade!«

Da nun wieder eine Weile verging und sich im Hause nichts rührte noch regte, so ward die Alte böse und schrie: »Käthchen! Balg! Wo bleibst du denn?« Da scholl eine Stimme von der Treppe:

»Ich komme schon, ich fliege!
Ich bin ja schon leibhaftig auf der Stiege!«

Die Alte beruhigte sich noch einmal — aber nicht gar lange, denn da wieder alles still blieb, so fuhr sie auf und schalt und fluchte. Da rief es vom Herde her:

»Wozu die bösen Flüche?
Ich bin ja schon am Herd und in der Küche!«

Gleichwohl blieb es in der Küche und im ganzen Hause totenstill. Jetzt riß der Alten völlig der Geduldsfaden, sie sprang aus ihrem Bett, fuhr in die Kleider und nahm einen Besenstiel, willens, Käthchen unbarmherzig durchzuprügeln. Aber wie sie hinauskam, war kein Käthchen da, nicht zu sehen, nicht zu hören, und was das Schönste, für die Alte aber das Schlimmste war, auch die Königskinder waren fort. Jetzt hättet ihr sollen die Hexensprünge sehen, welche die zornige böse alte Frau machte. Ihr Ring zeigte ihr sogleich die Richtung an, nach welcher Käthchen mit den Kindern geflohen war, und sie raste nun wild hinter ihnen her. Die Kinder aber, als sie in den Wald gekommen waren, hatten dort den Herrn von Edelhirsch nebst Gemahlin, Sohn und Tochter angetroffen und dieser Familie in aller Eile ihr Unglück und ihre Flucht erzählt und ihre edlen Herzen mächtig gerührt, so daß sie sich bereit zeigten, ihnen alle mögliche Hilfe angedeihen zu lassen. Die gute Dame Hirsch bot den Kindern ihren Rücken dar, sie alle drei nach dem Königsschlosse zu tragen, das jenseit des Waldes lag, und der Gemahl befahl seinen Kindern, sich in das Dickicht zurückzuziehen, er selbst stellte sich hinter dichtes Laubgebüsch nahe am Weg, willens, die Alte, wenn sie vorbeirenne und er ihren Ring nicht sehe, über den Haufen zu stoßen.

Es währte auch gar nicht lange, so kam die Alte in großen Sprüngen gesetzt; in ihrem Zorn und Eifer vergaß sie ganz, unsichtbar sein zu wollen, hielt auch den Finger mit dem Ring nicht empor, und so geschah es, daß plötzlich ein großes und stattliches Hirschgeweih mit ihr in eine sehr verwickelte Berührung kam, bei welcher eines der Enden des Geweihes mit Gewalt den Finger der Alten so streifte, daß der Zauberring vom Finger herabging und sich auf dem Ende feststeckte, und ehe sich‘s einer versah, so hatte der Hirsch die alte Hexe aufgegabelt, die nun durch des Ringes Kraft selbst starr und steif wurde, und trug sie in gestrecktem Lauf der Fährte nach, welche die gute Hinde, seine Gemahlin, im tauigen Grase zurückgelassen. Diese war indes mit den drei Kindern bereits im Königsschloß angekommen, und von dem König und der Königin waren die verlorenen Kinder und das gute Käthchen, das sie gerettet, mit großer Freude empfangen worden — als sie plötzlich alle mit großer Verwunderung die Alte, auf dem Geweih des stattlichen Edelhirsches sitzend und getragen, daher schweben sahen. Der Hirsch aber sprang ohne Säumen in den Schloßteich und tauchte mit dem Kopfe unter. Als er wieder auftauchte, war sein Geweih frei von der Last. Aber auch der Zauberring blieb im Grunde. Hirsch und Hirschin kehrten zu ihrem Walde und zu ihren Kindern zurück und waren sehr froh, daß ihnen nun niemand mehr ihre Milch nahm; Käthchen aber blieb bei den Königskindern und schlief in einem seidnen Bettchen und trug goldne Kleidchen und wurde selbst gehalten wie ein Königskind.

Der Mönch und das Vögelein

Es war in einem Kloster ein junger Mönch, des Namens Urbanus, gar fromm und fleißig, dem war der Schlüssel zur Bücherei des Klosters anvertraut, und er hütete sorglich diesen Schatz, schrieb selbst manches schöne Buch und studierte viel in den andern Büchern und in der heiligen Schrift. Da fand er auch einen Spruch des Apostels Petrus, der lautet: Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag und wie eine Nachtwache. Das dünkte dem jungen Mönch schier unmöglich, mocht und konnte es nicht glauben und quälte sich darob mit schweren Zweifeln.

Da geschah es eines Morgens, daß der Mönch herunterging aus dem dumpfen Bücherzimmer in den hellen schönen Klostergarten, da saß ein kleines buntes Waldvögelein im Garten, das suchte Körnlein, flog auf einen Ast und sang schön wie eine Nachtigall. Es war auch dieses Vögelein gar nicht scheu, sondern ließ den Mönch nahe an sich herankommen, und er hätte es gern gehascht, doch entfloh es, von einem Ast zum andern, und der Mönch folgte ihm eine gute Weile nach, dann sang es wieder mit lauter und heller Stimme, aber es ließ sich nicht fangen, obschon der junge Mönch das Vögelein aus dem Klostergarten heraus in den Wald noch eine gute Weile verfolgte. Endlich ließ er ab und kehrte zurück nach dem Kloster, aber ein anderes dünkte ihm alles, was er sah. Alles war weiter, größer und schöner geworden, die Gebäude, der Garten, und statt des niedern alten Klosterkirchleins stand jetzt ein stolzes Münster da mit drei Türmen. Das dünkte dem Mönch sehr seltsam, ja zauberhaft. Und als er an das Klostertor kam und mit Zagen die Schelle zog, da trat ihm ein gänzlich unbekannter Pförtner entgegen, der wich bestürzt zurück vor ihm. Nun wandelte der Mönch über den Klosterkirchhof, auf dem waren so viele, viele Denksteine, die er gesehen zu haben sich nicht erinnern konnte. Und als er nun zu den Brüdern trat, wichen sie alle vor ihm aus, ganz entsetzt. Nur der Abt, aber nicht sein Abt, sondern ein andrer, junger, hielt ihm stand, streckte ihm aber auch gleich ein Kruzifix entgegen und rief: »Im Namen des Gekreuzigten, Gespenst, wer bist du? Und was suchst du, der den Höhlen der Toten entflohen, bei uns, den Lebenden?«

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