Eduard Bernstein - Ferdinand Lassalle
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Ferdinand Lassalle Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers
Vorwort
Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre 1891 verfaßt, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung „Vorwärts” veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften Lassalles. Der Umstand, daß ich zu jener Zeit noch in London lebte, dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und daß aus buchhändlerischen Gründen die Ausarbeitung der Schrift in einer ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte verschiedene Mängel zur Folge, die ich später oft bedauert habe.
Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen Überzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an und über Lassalle berücksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das Bild des großen Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher zu gestalten, als es früher vor uns stand.
Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die besondere Aufgabe der Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer Begründer verehrt, fürdie Partei, also namentlich auch für bildungsdürstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der von ihm 1863 neu ins Leben gerufenen Partei in möglichster Klarheit zur Anschauung zu bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur Folge, als das literarhistorische Moment ziemlich zurücktreten mußte. Die Schrift beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen behandeln. Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer Führer der sozialistischen Demokratie.
Berlin-Schöneberg, im September 1919.
Ed. Bernstein.Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung
Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende und ausgebeutete Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen, Ehrgeizige und Schwärmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in Vorschlag brachten. Will man alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hält man sich jedoch an bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen nach einem Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner früheren Epoche nur soviel gemein, daß er wie jener der geistige Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen geführten Klassenkämpfe seiner Zeit ist. Überall drückt die Struktur der Gesellschaft, auf deren Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf.
Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der schon verhältnismäßig früh in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kämpfenden selbst in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen die privilegierten Stände der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der Interessen aller Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger Einrichtungen jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgemäße, vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den zunftbürgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen der bürgerlichen Wortführer so lange für bare Münze, als das Bürgertum ausschließlich Opposition gegen die Vertreter der ständischen Institutionen ist. Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch soweit zurückgedrängt, um an die Verwirklichung seiner eigenen Bestrebungen gehen zu können, so stellt sich bald heraus, daß die hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen, die um so heftiger ausfallen, je größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es wird mit rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf lange Zeit wieder vom Schauplatz zurück.
Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18. und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhältnisse in diesem Jahrhundert nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr außergewöhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den vorgeschrittenen Ländern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig unbedeutende Reibereien im Schoße der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer Flügel gegen einen andern aber genügten, um die tatkräftigeren Elemente des Proletariats als selbständige Partei mit eigenen Forderungen in die Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Bürgertums in England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber sozialistische und proletarisch-revolutionäre Bewegungen ein, die zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation zurückbleiben.
Literarisch und propagandistisch schlägt die Bewegung in den vierziger Jahren nach Deutschland hinüber. Schriftsteller und Politiker, die entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat für eine Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet, bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurück und kolportieren sie auf den Herbergen. Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre Propagandagesellschaften gegründet und schließlich, am Vorabend des Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem Programm, das mit unübertroffener revolutionärer Schärfe und Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunächst noch die Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionäre Kleinbürgerei zu kämpfen.
Die Februarrevolution in Frankreich und die Märzrevolution in Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch unterwühlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ großen Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt.
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