»Hammel kann ich empfehlen, falls Sie etwas essen wollen«, sagte Lomax und leckte sich das Fett von den Fingern, ehe er sie an seiner Kniehose abwischte.
Die Serviererin brachte Hawkwood das Bier. Er trank einen großen Schluck. Die Kerze auf dem Tisch war bis auf einem Stummel niedergebrannt und so konnte er Lomax’ Gesicht nur undeutlich sehen. Ihm fiel jedoch auf, dass er mit der verstümmelten Seite zur Wand saß. Nur wenn er den Kopf drehte, erkannte man die schrecklichen Narben.
Fett tröpfelte über Lomax’ Kinn. Als er merkte, dass Hawkwood schnell den Blick abwandte, hob er die Hand und wischte sich völlig unbefangen mit dem Ärmel das Fett ab.
»Beim Rasieren muss ich höllisch aufpassen«, sagte der Exdragoner und grinste. »Mein Kinn ist völlig taub. Ich könnte mir die Kehle durchschneiden und würde es erst merken, wenn mir der Kopf runterfällt.«
Hawkwood konnte nicht anders, er musste lachen.
Lomax grinste schief, hob seinen Krug und prostete Hawkwood zu. »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?«
»Amen!«, sagte Hawkwood. Allmählich gefiel ihm Lomax’ Sinn für Humor.
Lomax stellte seinen Krug wieder ab und schob Schale und Teller beiseite. »Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen, weil ich eine Information für Sie habe.«
Hawkwood trank einen Schluck Bier.
»Es betrifft unsere Straßenräuber. Sie sind doch noch hinter ihnen her, oder?«
»Ja, natürlich. Schießen Sie los.«
Lomax zögerte kurz. »Ehrlich gestanden, weiß ich nicht, ob es etwas zu bedeuten hat. Es ist mir auch erst nach unserem letzten Gespräch wieder eingefallen. Einer der Passagiere hat etwas erwähnt, worüber ich mir damals keine Gedanken gemacht habe. Aber jetzt, im Nachhinein, kommt es mir merkwürdig vor.«
»Und was war das?«
Wieder zögerte Lomax. »Haben Sie heute noch was Dringendes vor?«
Hawkwood dachte daran, dass er unbedingt mit Jago Kontakt aufnehmen müsse, aber das konnte warten, sollte Lomax tatsächlich einen wichtigen Hinweis haben. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Warum?«
Statt einer Antwort stand Lomax auf und warf eine Hand voll Münzen auf den Tisch. »Weil ich glaube, dass Sie und ich jemandem einen Besuch abstatten sollten.«
»Wem?«
»Dem Passagier, der diese Bemerkung fallen ließ, die mir wieder in den Sinn gekommen ist.«
Reverend Septimus Fludde erinnerte Hawkwood an die Geier Spaniens und Südamerikas. Diese hässlichen, kreischenden Kreaturen mit kahlen Hälsen und gekrümmten scharfen Schnäbeln. Reverend Fludde bewegte sich sogar wie ein langbeiniger Vogel. Er stakste steif umher und sah mit seinem Rundrücken aus, als wollte er jeden Augenblick die Arme ausbreiten und sich flatternd in die Lüfte erheben. Und das Gefieder des Reverends – seine schwarze, geistliche Kutte – unterstrich diesen Eindruck.
»Er ist ein streitsüchtiger alter Kerl, aber der einzige zuverlässige Zeuge«, hatte Lomax ihm auf dem Weg durch das Bishopsgate zu der baufälligen Kirche St. Jude erzählt.
»Was ist mit dem Kutscher und den anderen Passagieren?«, fragte Hawkwood.
Lomax schüttelte den Kopf. »Reine Zeitverschwendung. Der Kutscher hat sich nach dem Überfall ins Bett gelegt und ist nicht wieder aufgestanden. Er schwatzt nur noch dummes Zeug. Immerhin hat der arme Kerl mit ansehen müssen, wie vor seinen Augen zwei Männer getötet wurden. Kein Wunder, dass er wirr im Kopf geworden ist.«
»Und die anderen Passagiere?«
Lomax schnaubte verächtlich. »Ach, Sie meinen Richter Coverley und seine Gattin?«
»Ein Richter? « , fragte Hawkwood erstaunt.
»Berufsrichter, um präzise zu sein. Er ist der Vorsitzende eines Gerichts irgendwo in Gloucester. Haben Sie das nicht gewusst?«, fragte Lomax ebenso erstaunt.
Warum hat mich James Read nicht darüber informiert, als er mir die Ermittlungen für diesen Fall übertragen hat?, wunderte sich Hawkwood. Es erklärt allerdings, warum den Obersten Richter ausgerechnet dieser Überfall auf eine Kutsche derart empört hat. Wahrscheinlich hat Richter Coverley kraft seines Amtes die Bow Street unter Druck gesetzt, damit die Diebe gefasst werden und er den gestohlenen Schmuck zurückerhält. Wie praktisch, einflussreiche Freunde zu haben!, dachte Hawkwood zynisch.
»Er ist ein richtiger Scheißkerl«, sagte Lomax. »Und seine Frau ist nicht besser. Viel Wind, aber nichts dahinter. Außerdem hat sie ein Gesicht, bei dem die Milch sauer wird.« Lomax lachte glucksend. »Und das sage ausgerechnet ich. Jedenfalls waren die beiden auf der Rückreise von einer Hochzeit. Der Richter hat mir erzählt, er müsse wegen anstehender Gerichtstermine unverzüglich in seine Grafschaft zurückkehren. Mir tut der arme Kerl Leid, der als Nächster vor ihm steht. Seine Ehren hatte eine derartige Stinklaune, dass er ihn bestimmt zum Tod durch Erhängen verurteilt und ihm noch eigenhändig den Strick um den Hals legt.«
»Womit uns nur noch Reverend Fludde bleibt …«
»Ja«, stimmte Lomax zu. »Der spuckt zwar Feuer und Schwefel, aber wenn Sie mich fragen, so bellt er nur und beißt nicht.«
Letztendlich hatte der Reverend jedoch nur lautstark protestiert, weil ihn die beiden unerwünschten Besucher bei der Ausarbeitung seiner Sonntagspredigt störten. Die Haushälterin hatte Hawkwood und Lomax in das düstere Arbeitszimmer geführt.
Fludde saß an seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch und betrachtete die beiden Gesetzeshüter spöttisch über den Rand seiner Brille hinweg. »Sieh da, Officer Lomax! Haben Sie die Halunken geschnappt?«
»Leider noch nicht«, sagte Lomax.
Der strafende Blick des Geistlichen ließ keinen Zweifel, dass er eine andere Antwort erwartet hatte. Als würde er erst jetzt Hawkwoods Anwesenheit bemerken, drehte er ruckartig den Kopf. Hawkwood hätte schwören können, dass er die Halswirbel knirschen hörte.
»Und wer, bitte, ist das?«
»Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Kollegen, Officer Hawkwood, tätig als Constable für Sonderermittlungen für die Bow Street, vorzustellen.«
Fludde zeigte sich wenig beeindruckt. »Ach, tatsächlich? Und warum sind Sie hier, anstatt die Straßen nach den Räubern abzuklappern?«
Lomax räusperte sich. »Wenn Sie gestatten, Reverend, möchte ich mit Ihnen noch einmal über jene Nacht sprechen, in der Ihre Kutsche überfallen wurde. Als einer der Passagiere getötet wurde, sagte der Mann, der geschossen hat, etwas. Können Sie sich daran noch erinnern?«
Reverend Fludde reckte das Kinn vor. »Selbstverständlich kann ich mich daran erinnern! Ich bin zwar schon ein Mann fortgeschrittenen Alters, aber noch nicht senil, Officer Lomax!«
»Natürlich nicht, Reverend. Entschuldigen Sie bitte«, lenkte Lomax schnell ein. »So habe ich das nicht gemeint. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch Officer Hawkwood erzählen würden, was der Mörder bei dem Überfall gesagt hat.«
»Wäre das bei der Fahndung nach den Verbrechern hilfreich?«
»Davon bin ich überzeugt, Sir.«
»Also gut«, seufzte Reverend Fludde ungehalten. »Lassen Sie mich nachdenken. Soweit ich mich entsinne …« Er warf dem Exdragoner einen vernichtenden Blick zu. »… hatte er seine Pistole auf den Kopf des Mannes gerichtet.«
Zu Hawkwoods Verblüffung stand Reverend Fludde jetzt auf, schwankte kurz auf seinen spindeldürren Beinen, streckte den Arm aus und zielte mit seinem langen, knochigen Mittelfinger auf Lomax’ Gesicht. Mit seiner dünnen, schrillen Stimme sagte er: »Ich kann mich genau an die Worte erinnern. Er sagte: ›Na, wenn’s denn so ist, will ich dir glauben, Leutnant‹.«
»Und dann hat er ihn erschossen?«, fragte Lomax.
Diese schmerzliche Erinnerung quälte den Reverend noch immer. Als er den Arm wieder senkte, zuckte sein Gesicht und er flüsterte: »Ja, so war es.«
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