Das Geld für diese Aktion und für das Doppelgrab hat sie allerdings nicht. Wunschdenken, das unerfüllt bleiben muss, so bitter das auch ist und so leid mir die Frau auch tut.
Ob ich nicht wenigstens mit ihr auf den Friedhof gehen könne, sie sei sich wegen des Grabsteins noch nicht sicher, und ich soll ihr doch beim Aussuchen helfen. Klar, das ist das wenigste, was ich tun kann, und so begleite ich sie.
Das Wetter ist schön, und wir spazieren über den Friedhof. Meinen Arm, den ich ihr angeboten habe, hat Oma Gretel gerne genommen und sich bei mir eingehakt. Wir schauen uns zahlreiche Grabsteine an – bei dem einen gefällt ihr die Form, beim nächsten die Farbe und beim dritten die Schrift; ich notiere das und werde es dem Steinmetz so weiterleiten.
Am Ende unseres Rundgangs über den Friedhof stehen wir vor dem Grab, in dem ihr Paul liegt, und sie beginnt, die wenigen Blumen etwas zurechtzuzupfen. Die Reihen der Gräber in diesem Feld liegen nicht neben-, sondern untereinander. Das bedeutet, dass am Fußende von Pauls Grab ein schmaler Weg ist, dann folgt das nächste Grab und so weiter.
Pauls Reihe ist schon fast voll, bald werden die Friedhofswärter die nächste Reihe rechts daneben anlegen.
Der Friedhofswärter kommt, er will mal sehen, was ich da mache – ständig haben die städtischen Bediensteten Angst, wir Bestatter könnten ihnen irgendwie ins Handwerk pfuschen. Das sagt er natürlich nicht, sondern nur, dass das Grab jetzt genügend gesackt sei und er bald Erde nachfüllen wolle, Frau Schellinger solle also bitte jetzt keine neuen Blumen mehr pflanzen, sondern abwarten, bis das Grab aufgefüllt ist; dann könne man auch den Grabstein stellen und das Grab endgültig bepflanzen. Oma Schellinger nickt und sagt: »Wo Sie jetzt schon mal da sind – wie werden denn hier die Gräber in dieser Reihe vergeben?«
Sehr vornehm kratzt sich der Friedhofswärter am Allerwertesten, zieht die Nase hoch und sagt: »Das sind Reihengräber, die werden der Reihe nach vergeben. Der Nächste, der stirbt, bekommt das nächste freie Grab und so weiter. Sie sehen ja, dass die Gräber am Fußende von Ihrem Grab schon belegt sind. In dieser Reihe kommen noch sechs, dann fange ich eine neue Reihe mit sechzehn Gräbern an.«
»Wann ist denn das Grab direkt neben meinem Paul an der Reihe?«
»Das kann ich nicht genau sagen. Warten Sie mal, ich guck mal in der Reihe im Nachbarfeld.«
Der Friedhofswärter läuft die Reihe auf der anderen Seite des Weges ab, schaut auf die Sterbedaten auf den Grabsteinen und sagt dann, als er wieder bei uns steht: »Wenn ich das richtig sehe, dauert es ungefähr vierzehn Monate, bis das so weit ist. Aber so genau kann das keiner wissen. Manchmal mache ich zwei in der Woche auf. Mal sterben mehr, mal sterben weniger.« Er lacht meckernd, als hätte er etwas besonders Lustiges gesagt, und trollt sich wieder, nicht ohne sich zum Abschied noch mal am Allerwertesten zu kratzen.
Oma Gretel hält ihn auf, ruft ihn zurück und drückt ihm ein Trinkgeld in die Hand. Dann sagt sie: »Halten Sie mir das Grab neben meinem Paul frei, ja?«
»Das kann ich nicht.«
»Ich will aber neben meinem Paul liegen.«
Der Friedhofswärter will wieder lustig sein, lacht schon vorher sein meckerndes Lachen und sagt: »Dann müssen Sie eben in vierzehn Monaten sterben und genau an dem Tag beerdigt werden, an dem dieses Grab an der Reihe ist. Da müssten Sie aber schon Glück haben.«
Nun ja, beim Thema Sterben von Glück zu sprechen ist schon etwas weit hergeholt, aber ich sehe Oma Schellinger an, dass sie das genau richtig verstanden hat und es für sie tatsächlich ein großes Glück bedeuten würde, wenn sie in diesem Grab neben ihrem Paul zu liegen käme.
Allerdings macht die Dame keineswegs einen gebrechlichen Eindruck, und ich habe so meine Zweifel, dass ausgerechnet sie innerhalb der nächsten Monate sterben wird.
Es vergeht ein ganzes Jahr, und ich denke gar nicht mehr an die Geschichte.
Da bekomme ich Besuch von einer Rechtsanwältin. Sie weist sich als Betreuerin von Oma Gretel aus und möchte einen Blick in die Vorsorgeunterlagen werfen. Ich erfahre, dass Oma Gretel vor einigen Monaten in ein Pflegeheim gekommen und mittlerweile schwer erkrankt ist. Die Betreuerin erzählt, dass der Arzt sagt, der Frau fehle eigentlich nichts, aber sie habe ihren Lebenswillen aufgegeben und rede nur davon, dass sie zu ihrem Paul will.
Kurz: Oma Gretel stirbt genau in der Woche, in der die Grabreihe neben ihrem Paul so weit vorgerückt ist. Als ich jedoch den Sterbefall beim Friedhofsamt anmelde, heißt es, das Grab mit der Nummer 76 sei schon vergeben, und Oma Schellinger bekomme sogar erst die Nummer 78 – zwei Reihen weiter unten als ihr Paul.
Das kann ich nicht zulassen, so viel ist klar. Also mache ich mich auf den Weg, fahre zum Friedhof und suche den Pokratzer, der mir bereitwillig Auskunft darüber gibt, welcher Bestatter für die Beerdigung in Grab 76, dem Grab direkt neben Paul, zuständig ist. Schon will ich mich auf den Weg machen und male mir aus, wie ich mit dem Kollegen um das Grab schachere, da fällt mir ein, dass dieser vermutlich überhaupt keine Ahnung hat, welches Grab für seinen Sarg vorgesehen ist. Reihengräber werden eben so vergeben, wie sie an der Reihe sind, da macht sich kaum jemand Gedanken, neben wem man da zu liegen kommt.
Ich kehre um, suche wieder nach dem Pokratzer und finde ihn beim großen Komposthaufen, wo er gerade dabei ist, die unverrottbaren Bestandteile verblühter Kränze abzureißen und in einen Müllcontainer zu werfen.
»Sagen Sie mal, kann man denn da gar nichts machen, dass die Frau Schellinger doch in das Grab Nummer 76 kommt?«
Umständlich steigt der Friedhofswärter vom Komposthaufen, zieht hörbar die Nase hoch und erklärt mir: »Das ist kompliziert und geht gar nicht einfach.«
»Was muss man denn machen?«, frage ich und ziehe einen 20-Euro-Schein aus der Jackentasche. Ganz beiläufig, wie selbstverständlich, nimmt der Mann den Schein und sagt: »Kommen Sie mal mit.«
Ich folge ihm in sein kleines Büro neben der Trauerhalle.
»Sehen Sie, hier ist die Wand mit der Tafel. Auf dieser Tafel sind alle Gräber und Namen eingezeichnet. Da müsste ich jetzt bei 76 den Meier ausradieren und die Frau Schellinger hinschreiben, und bei 78 muss ich die Frau Schellinger ausradieren und den Herrn Meier hinschreiben.«
»Ja, und würden Sie das tun?«
»Kein Problem«, das ist alles, was er sagt. Dann radiert und schmiert er, die Zunge zum Mundwinkel herausgestreckt, so anstrengend ist dieser hoheitliche Verwaltungsakt für ihn. Schon nach knapp zehn Minuten ist er fertig, tupft sich den Schweiß von der Stirn, kratzt sich – man weiß schon, wo – und sagt: »So!«
Ich bin erleichtert und will mich gerade bei ihm bedanken, da zieht er die Augenbrauen hoch und sagt: »Dann müsst ihr die alte Frau aber auch einen Tag früher beerdigen. Das geht ja der Reihe nach.«
Gut, das bekomme ich hin, es kommt ohnehin bloß ein älteres Ehepaar aus der Nachbarschaft, die Betreuerin und der Pfarrer.
Zwei Tage später ist die Beerdigung von Oma Gretel. Auch ich bin gekommen – irgendwie ist sie mir doch ans Herz gewachsen, und ich bin der Einzige, der weiß, dass sie so im Sarg liegt, dass ihr Kopf ganz leicht nach links zeigt. So schaut sie wenigstens zu ihrem Paul, der jetzt genau neben ihr liegt, so wie sie es sich gewünscht hat.
Die allermeisten Leute sterben heutzutage ja im Krankenhaus oder Pflegeheim. Nur die wenigsten sterben zu Hause. So spielt sich der Bestatteralltag oft zwischen weißen Krankenhauskacheln und in den betonierten Kellern von Altenheimen ab. Kommt man aber mal zu den Familien ins Haus, dann kann man oft einiges erleben und berichten.
Frau Klemperer kommt und hat Sterbepapiere in der Hand – man muss dann nicht fragen, was sie will, das sehen wir sofort. Ihr Bruder ist verstorben, gestern Abend, in seiner Wohnung. Soweit nichts Ungewöhnliches, doch ich merke gleich von Anfang an, dass da noch irgendetwas ist, aber sie rückt mit der Sprache nicht heraus.
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