Fünfzehn Minuten bis zum Hafen. In jedem Fall war damit zu rechnen, dass sie die Schiffe überwachten. Zunächst versteckte er sich hinter den Resten der Hafenlatrine, einer vernagelten Baracke aus lange vergangenen Tagen. Er schob seine Tasche ins Gebüsch und setzte sich darauf. Er war jetzt selbst das Zentrum der Niederlage, er ganz allein.
Bald wurde es hell, und die ersten Fahrgäste trafen ein. Nur Einheimische benutzten die frühe Fähre, Leute, die auf dem Festland arbeiteten oder einkaufen wollten. Man wechselte einen Gruß, man kannte den Kapitän. Ed beneidete die Insulaner um ihr karges Miteinander, das kaum aus Worten, nur aus Gesten bestand. Ein kurzes Nicken, eine unverständliche Wendung, Ausdruck ihrer Abwehr gegen die Unzahl von Fremden und ihre plappernde Invasion, jene dem Norden grundfremde Kakophonie, von der die Insel überschwemmt wurde in jedem Sommer. Eine Grenze auch für die Esskaas mit ihrem haltlosen Gerede über die Insel, das Meer und das Leben. Selbst auf vollbesetzten Schiffen erkannte man die Eingeborenen sofort. Sie erschienen vollkommen unempfindlich gegen das Getöse ringsum, als hätten sie ihr Dasein endgültig abgedichtet, ja, als wären sie geimpft und für immer immun gegen jenes abscheuliche Wesen namens Feriengast. Die Welten vermischten sich nicht. Nur jemand wie Kruso verkehrte in beiden Sphären … Verhaftet, dachte Ed. Lange nicht, wenn überhaupt. Torgelow.
Die kurze Gangway, die aus Brettern und einem Eisenrohr als Geländer bestand, wurde aufs Schiff gezerrt. Ed rappelte sich, der Riemen seiner Reisetasche schnitt in die Schulter, da entdeckte er sie. Das Tresenehepaar. Mit einer Karre voller Gepäck. Er zweifelte noch, etwas schien fremd in ihrer Haltung, als bemühten sie sich, es nicht wirklich zu sein — und vielleicht waren sie es nicht? Ed zögerte. Noch einmal schob er seine Tasche ins Gebüsch und schlug einen Bogen — zurück auf den Weg Richtung Hafen.
Das Tresenehepaar. Zwei Sekunden voller Freude. Wie man unvermutet einem Bekannten begegnet und ihn in der Überraschung herzlicher begrüßt als angebracht. Schon im nächsten Moment verschloss sich Karolas Gesicht; Rick blickte angestrengt zur Fähre hinüber.
Rasch hatte Ed erklärt, dass er nur einen der Klausnerkarren abholen wollte im Hafen — für den Brottransport. Dabei fiel sein Blick auf die Karre mit dem Gepäck und der rot lackierten Aufschrift» Zum Klausner«, und wie rot lackiert stand auch seine Lüge im Raum.
«Gut, warte«, sagte Karola kurz und begann das Gepäck auszuladen, auf ihre energische Art.
«Nein, bitte, es gibt doch noch andere, andere Karren, hinten, auf dem Karrenplatz«, beeilte sich Ed zu versichern, das Blut stieg ihm zu Kopf, aber dann, was sollte er sonst tun, half er beim Entladen. Und schließlich, als sei er nur dazu aufgetaucht, half er auch, die Sachen im Bug der Fähre zu verstauen. Der Spalt zwischen Pier und Bordwand, die Zugbrückenangst. Der Moment, sich anzuvertrauen, war vorüber. Kein Wohin. Eine der Botschaften oder das Ungarische-Grenze-Rätsel? Keine Frage.
Das Gepäck: Es war alles . In einer Tasche klirrten Flaschen, aus einer anderen ragte eine mit Muscheln und Bernsteinsplittern beklebte Nachttischlampe. Etwas Großes, Unabsehbares hatte sich verschoben. Und es verschob sich noch immer, unaufhaltsam, unentwegt, als wären sie Teil einer Drift auf riesigen Schollen (ein tiefes, kindliches Gefühl), und als das Tresenehepaar die Zugbrücke überschritten hatte und die Motoren anliefen und der Stahl des Schiffsrumpfes zu zittern begann, waren sie bereits weit voneinander entfernt, weiter als auf unterschiedlichen Kontinenten.
Die Schiffssirene heulte auf, und der verrückte Junge trat ins Bild; er dirigierte die Abfahrt der Fähre. Langsam löste sich das Heck des Schiffes von der Hafenkante und schob sich ein Stück ins Hafenbecken. Der Junge kreiste windmühlenartig mit seinem rechten Arm durch die Luft, und der Rumpf drehte auf Kurs. Mit einem dumpfen Wummern nahm der Dampfer Fahrt auf. Ed atmete den Diesel, sein blauschwarzes Gift, das die Schleimhäute beizte.
Karolas Lippen blieben schmal, als hätte sie beschlossen, kein Wort mehr zu verlieren. Weder über den Klausner noch über ihre verschworene Gemeinschaft, für die das Tresenehepaar wie Eltern waren. Vielleicht misstraute sie ihm, sicher sogar. Was sollte sie auch glauben über sein plötzliches Erscheinen im Hafen. Brot holen, obwohl er an jedem Morgen um diese Zeit im Keller saß und heizte. Brot holen, obwohl Bäcker Kasten die Brote ohnehin nicht vor acht Uhr … Erst jetzt bemerkte Ed die Tränen, und schließlich öffnete sich Karolas Mund. Der Diesel heulte auf, und ihn erreichte nicht mehr als die Bewegung ihrer Lippen.
Ed starrte sie an, er hob den Arm, ungläubig, zögernd. Versehentlich war er auf der falschen Seite des Abschieds gelandet.
«Wann denn sonst, Ed.«
Hatte sie das gesagt?
Ja, ohne Zweifel, das hatte sie gesagt.
Oder doch etwas anderes?
«War doch schön, Ed «oder» Wehr dich sanft, Ed «oder» Wen du willst, Ed«.
Wehr dich sanft. Dabei hatte sie eine Geste gemacht, auf Ed hin, als wollte sie ihn streicheln, und dann, als wollte sie auch den Dornbusch streicheln, das Hochland und schließlich die gesamte Insel. Streicheln auf die zärtlichste Art, die auf diese Entfernung möglich war. Eine Weile hatten sie und Rick noch an der Reling gestanden, dann waren sie verschwunden.
Ed konnte noch nicht glauben, dass sie gingen. Noch weniger ertrug er, wofür sie ihn gehalten hatten. Verrat auf allen Seiten. Die Vorstellung des Tresens ohne Tresenehepaar.
Herden von Tagesurlaubern zogen vorüber. Abfahrt der nächsten und der übernächsten Fähre, ohne Ed. Der Kutscher Mäcki und sein Bärenpferd, das ihn fragend ansah. Der verrückte Junge mit offenem Mund. Er saß auf einem Plastikstuhl an der Hafenkante, er hatte die Beine übereinandergeschlagen und den Oberkörper zur Seite gedreht, als hätte ihn plötzlicher Ekel ergriffen. Dabei ging es ihm nur um den Wind; er neigte seinen Kopf, um das Hereinwehen des Windes in seinen Mund zu erleichtern, er grunzte und röhrte in den Wind und stieß Möwen- oder Babyschreie aus, lang und anhaltend. Im Vorübergehn entdeckte Ed, dass er kein Junge mehr war, kein Kind, schon lange nicht mehr. Sein Gesicht war alt.
Da seine Verlegenheit nicht nachließ, spielte er weiterhin den Brotabholer. Er zerrte seine Tasche aus dem Gebüsch und warf sie in die Karre. Zu spät fiel ihm die Flasche ein — Blauer Würger, unversehrt. Er drehte den Schraubverschluss und lauschte auf das feine Knacken. Er trank und hörte das Pfeifen — gegen den Westmond.
Die Tür zum Hitthim war mit einer Sperrholzplatte verkleidet. Er fragte sich, ob sie zu Bruch gegangen war im Kampf . Und wie René und er den langen Weg von dort bis zum Hafenbecken zurückgelegt hatten; er erinnerte sich nicht. Er blickte sich um, als könnte es noch Spuren geben. Als könnte der Eisverkäufer hervortreten hinter der Kastanie, die auf halbem Weg zwischen Hitthim und Hafenbecken stand, der einzige Baum weit und breit. Tut mir leid, aber du weißt … Ein Büschel Haare in der Hand.
Hinter dem Tresen der Inselbar erkannte Ed den Umriss Santiagos; er blickte zu Boden, umkurvte ein Sandloch und war vorbei. Im Schaukasten des Hauptmannhauses brannte noch Licht, obwohl die Sonne inzwischen hoch am Himmel stand. An Stelle des Hauptmanngedichts hing die Ankündigung einer Lesung des Schriftstellers Rainer Kirsch hinter dem Glas; sein neuer Band wurde vorgestellt. Das Blau des Aquarells von Ivo Hauptmann war ausgeblichen, die Reißnägel hatten Rost angesetzt. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Ed dem Maler Ivo Hauptmann nah, vielleicht nur, weil er es geschafft hatte, ein Sohn zu sein.
Die Karre ließ Ed am Weg zurück und stapfte ein Stück den Kellnerstrand Richtung Norden, er war vollkommen leer um diese Zeit. Er überstieg den Draht, der den Strand von der Hochwasserschutzdüne trennte. Nach ein paar Metern ließ er sich fallen und schlief ein. Noch einmal sah er die Hand, die ihn gesegnet hatte, beim ersten Frühstück. Dann die Hand Loschs auf seiner Schulter.
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