«Zum Tagesausklang hören Sie die Nationalhymne.«
Ed dachte an den Mann von der Kreishygienekommission. Anfangs hatte er sich über die Arbeitsbedingungen im Abwasch geäußert, enttäuscht und voller Mitgefühl, ihm dann aber nur noch Fragen zu Kruso und seiner Rolle» im Kollektiv des Betriebsferienheims «gestellt. Obwohl es heiß gewesen war im Zimmer, so heiß, dass Ed, wie unter Zwang, damit begonnen hatte, nach Kakerlaken auszuspähen, trug der Hygienekommissar eine schwarze, mit vielen praktischen Taschen besetzte Lederjacke. Diese Jacke erzeugte ein leises Knautschen, wenn er sich zurechtsetzte oder den Arm hob, um das dunkle glatte Haar aus der Stirn zu streichen. Seine Heliomaticbrille hellte sich nach und nach auf. Am Ende konnte Ed die Augen sehen: ein blasses, stumpfes Blau.
Nein, sicher, dieser Mann war kein Ausgestoßener, er hatte seinen angestammten Platz, er war ein fester Bestandteil allgemein anerkannter Verhältnisse, trotzdem ging auch von ihm Verlorenheit aus. Es war eine flächige, grobe Verlorenheit, ohne die vielen faszinierenden Details, wie Ed sie zum Beispiel beim Hausmeister des Germanistischen Instituts bewundert und in gewisser Weise auch bei Krombach oder Rimbaud entdeckt hatte, obwohl ihr Leben in vollkommen anderen Umständen, ja, in einer anderen, nahezu gegensätzlichen Welt angesiedelt war. Vielleicht gab es ein tiefer liegendes, unsichtbares Myzel von Vergeblichkeit, in dem sie alle wurzelten, von dem sie alle herkamen und austrieben? Eine Verwurzelung, die tief, weit, ja, bis auf die andere Seite der Geschichte reichte, wo das Kontinuum der Leere herrschte, jenes starke verlockende Nichts, von dem Ed sich mit Mühe abgewendet hatte vor dem Antritt seiner Reise.
Nicht gesprungen.
Spätestens als der Mann beiläufig erklärte, dass sich in Eds Papieren — tatsächlich verwendete er das Wort Kaderakte, obwohl Ed ja nicht mehr als eine Saisonkraft war, ein Aushilfsabwäscher, Spüli, Plongeur, ohne jeglichen Ehrgeiz, zur Küchenhilfe aufzusteigen oder gar zur Tresenkraft, jedenfalls hatte er nie über eine Perspektive als Gastronom (Kosmodrom) nachgedacht, schließlich war er mit ganz anderen Dingen und Umständen beschäftigt gewesen — kurz: Als der Heliomaticmann darauf zu sprechen kam, dass sich in seiner Kaderakte (zuerst hatte Ed Kakerlake verstanden) weder ein Meldeschein für die Insel noch ein Gesundheitszeugnis befunden hätten, das Ganze aber vom Problem her sicher lösbar sei, konnte es keinen Zweifel mehr darüber geben, wer dort an seinem Bett Platz genommen hatte.
«Also, Herr Bendler. Erzählen Sie mir doch ein wenig, zum Beispiel über ihre wunderbare Freundschaft mit Herrn Krusowitsch, von der man, glauben Sie mir, auf der Insel schon so manches gehört hat. «Er spitzte seinen breiten, hässlichen Mund wie zum Kuss, und Ed errötete.
Langsam erholte er sich. Seine Schwellungen klangen ab, die Wunden verheilten, aber er fühlte sich noch schwach und verließ selten das Zimmer. Er schlief jetzt viel am Tag und verbrachte seine Abende bei Viola, unter dem Radiokasten. Am liebsten hörte er die Reiserufe. Eines Nachts betrat Cavallo die Küche, schaltete das Licht ein und winkte ihm zu, als hätte er ihn nirgendwo sonst vermutet.
«Feindsender?«
«Wie immer.«
Während Viola Tschaikowski spielte, schmierte Cavallo Brote, kochte Eier und wusch Äpfel. Erneut bewunderte Ed seine schmale, verschlossene Gestalt, er bewunderte seine Handgriffe, das sichere, geschmeidige Hantieren mit dem Messer, wie von Tschaikowski komponiert. Am Ende packte er alles in einen kleinen Karton.
«Na dann!«
«Viel Hunger.«
«Ohne Ende. Und du, Edgardo? Verkriechst dich hier bei Viola, aber bekommst nicht viel mit, oder?«
«Genau.«
Ed wusste, dass Cavallo Unrecht hatte, in jedem Fall hatte er Unrecht. Cavallo trat auf Ed zu und umarmte ihn, noch im Sitzen, denn bis dahin hatte der Abwäscher unter dem Radio nicht begriffen, dass es sich um einen wirklichen Abschied handelte.
Ed hörte das Konzert zu Ende. Vladimir Horowitz am Klavier. Dann die Programmvorschau, dann die Hymne, dann die 0-Uhr-Nachrichten und ein Reiseruf:»Herr Dorgelow, zur Zeit vermutlich unterwegs im Raum Hamburg mit einem grünen VW Käfer, amtliches Kennzeichen HH PN 365, wird dringend gebeten, zu Hause anzurufen. «Während Ed einschlief, hörte er die Stimme Monikas im Flur.
Unterwegs im Raum Sehnsucht
«Sie werden es über Ungarn versuchen«, erklärte Karola, ihre Stimme war voller Respekt. Auf einem Tablett brachte sie zwei Flaschen» Lindenblatt«, bereits entkorkt, und einige Gläser. Ed erfuhr, dass Monika nie wirklich mit René verheiratet gewesen war, weshalb man sie von offizieller Seite nicht zurückhalten könne. Ed bezweifelte das. Alle bis auf Krombach und Koch-Mike, der eine späte Lieferung im Hafen entgegennahm, hatten sich bei ihm versammelt. Als wäre sein Krankenzimmer der geeignete Ort, diesem Abschied hinterherzutrinken, der so kurz und ohne jede Feierlichkeit ausgefallen war.
Einige saßen auf Eds Bett, einige hockten auf dem Boden. Auf dem Hocker am Tisch saß Rolf, der schwieg und zum Fenster hinaussah. Auch er, dachte Ed, alle warten. Alexander Krusowitsch, unterwegs im Raum Sehnsucht mit einer großen leuchtenden Verkündigung, amtliches Kennzeichen unbekannt, wird gebeten, sich unverzüglich mit seiner Familie in Verbindung zu setzen. Ich wiederhole …
Nach zwei Wochen jenes undefinierbaren Vakuums, das auf den Tag der Insel gefolgt war, den Tag der Esskaas, Ruhetag aller Ruhetage, ging alles sehr schnell. Am frühen Morgen hatten Cavallo und Monika das Eiland verlassen, mit der ersten Fähre. Ausgerechnet Monika … Wie konnte sie abreisen, solange man René noch vermisste? Ein feiner sinnloser Glutpunkt Eifersucht pulsierte in Eds Brust. Nicht Tschaikowski, sondern Mona, die kleine Unsichtbare, hatte die Anzahl der Brote diktiert.
Nach einer Art letztem Willen, von Cavallo mit Kugelschreiber auf Quittungspapier festgehalten, verteilte Rimbaud die Bücher seines Freundes. Ed fiel eine Broschüre mit der Geschichte der Zoologischen Station Neapel zu. Der Umschlag zeigte eine Villa am Golf von Neapel, mit Kanälen, die vom Wasser her direkt in die unterirdischen Gewölbe des Gebäudes reichten — wie von Jules Verne erdacht. Dazu eine Abhandlung über Faust in Italien von Paola Del Zoppo und Goethes Italienische Reise . Ed schlug das Buch auf und fand sofort eine Anstreichung:»Alte Pferde. Diese kostbaren Tiere stehen hier wie Schafe, die ihren Hirten verloren haben.«
Gegen neun betrat Koch-Mike das Zimmer und füllte es augenblicklich aus. Es war ein seltsamer, befremdlicher Moment, der sich Ed einprägte, für alle Zeit. Sie erfuhren, dass man Kruso verhaftet hatte. Verhaftet und nach Rostock gebracht, zur Vernehmung, wie es hieß. Ungesetzlicher Grenzübertritt, Widerstand gegen bewaffnete Organe, Verdacht auf staatsfeindliche Gruppenbildung — plötzlich stand alles Mögliche im Raum. Sie hätten ihn in einer Buschhöhle erwischt, auf dem Bessiner Haken, im Vogelschutzgebiet. Der verrückte Junge im Hafen hatte von Handschellen berichtet. Kruso sei in Handschellen durch den Ort geführt worden. Vor der Inselbar hätte es deshalb fast einen Aufstand gegeben, nicht nur Esskaas, auch Leute vom Stammtisch seien nach draußen gestürmt und Mutter Mete hätte sich wie tot auf die Straße gelegt, und dieser Anblick wäre dann endgültig zu viel gewesen für alle .»Ohne Handschellen jedenfalls haben sie Kruso dann zum Hafen gebracht, und ohne Handschellen hat er das Schiff betreten!«, rief Koch-Mike, als hätte er einen Sieg zu verkünden.
Ed starrte auf das Etikett des» Lindenblatts«. Es war beschlagen. Er sah Krusos Finger, wie er zärtlich darüber hinstrich und so auf irgendetwas deutete, irgendein Zeichen gab, für ihn, für sein Leben.
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