«Darf ich deine Aufmerksamkeit auf ein anderes Faktum richten?«, fragt er.»Nämlich die Tendenz meiner Tochter, eine Trennungslinie zu ziehen zwischen mir und dem portugiesischen Teil unserer Familie. Vor allem, wenn wir in Rapa sind. Weder verstehe ich die Sprache noch die Mentalität, meine Fragen sind naiv, und mein harmloser Spott zeugt von deutscher Überheblichkeit. Egal, woran ich Anteil nehme, du signalisierst mir, dass ich mich vergeblich bemühe. Als wolltest du mich in dem Kreis nicht drinhaben.«
«Damit wir uns richtig verstehen, Anteilnahme nennt man es, wenn jemand lesend auf dem Balkon sitzt, bis er zum Essen gerufen wird. Sie drückt sich darin aus, mit großer Geste Weinflaschen zu entkorken, nachdem man allen vorgelesen hat, was auf dem Etikett steht. Übrigens in einem grottigen Portugiesisch.«
«Danke. Ich meinte jedenfalls nicht, dass ich mich in alle Debatten im Hause Pereira einmische. Die sind irrational genug auch ohne mein Zutun.«
«Wie viele Geschwister hat Avó Lu?«
«Was?«
«Simple Frage.«
Diesmal kann er ein Schnauben nicht unterdrücken. Was soll das? Kein Mensch vermag das weltumspannende Netz einer südeuropäischen Großfamilie zu überblicken. Dafür wiederholen sich die Vornamen zu oft und werden Bezeichnungen wie Onkel, Tante, Cousin und Cousine zu großzügig gebraucht. Der Teil der Familie, der im südlichen Massachusetts eine Reihe preiswerter Restaurants betreibt, könnte auf einen Bruder von Lurdes zurückgehen oder auf einen gemeinsamen Vorfahren. Wichtig ist alleine, dass alle zusammengehören; zu jeder Tages- und Nachtzeit könnte er an eines dieser Häuser klopfen, ohne dass jemand ihm inquisitorische Fragen stellen würde wie die, über deren ausbleibende Antwort seine Tochter sich diebisch zu freuen scheint.
«Wie viele sind es?«, fragt er, um den Prozess abzukürzen.
«Null. Sie war das einzige Kind und zwei Jahre alt, als ihre Eltern gestorben sind.«
Sobald Philippa es sagt, fällt es ihm wieder ein. Lurdes kommt aus der Serra da Estrela, wurde aber irgendwo im Süden von Nonnen aufgezogen und hat Artur erst kennengelernt, als sie zu einer Familienfeier in die Heimat fuhr.
«Bist du zufrieden?«, fragt er, statt mit seiner verspäteten Kenntnis der Verhältnisse aufzuwarten. Die Feier war eine Beerdigung. Wen interessiert’s.
«Was meinst du mit Anteilnahme, wenn du nicht mal das weißt?«
«Ich meine, liebe Philippa, dass die schönsten Erinnerungen meines Lebens fast alle mit Portugal zu tun haben. Mit den Besuchen in Rapa und den gemeinsamen Abenden auf der Terrasse, mit Urlaub am Meer und einer Zeit, als meine Tochter nicht ständig versucht hat, mich zu einem arroganten Miesepeter zu stempeln, der alle Menschen vor den Kopf stößt. Es steht dir frei, dich an der Schärfe deines Urteils zu erfreuen oder an der Mühelosigkeit, mit der du dich in zwei Sprachen und Ländern bewegst. Klug wie du bist, wirst du eines Tages einsehen, dass du dabei von Voraussetzungen profitierst, die du nicht alle selbst erbracht hast.«
Einen Moment lang klingt die Stille im Auto wie die Ruhe vor dem Sturm, dann sieht Philippa ihn kurz an und wendet den Blick wieder geradeaus. Hartmut weiß nicht, ob er sie beschämt, verärgert oder davon überzeugt hat, dass mit ihrem Vater nicht zu reden ist. Jedenfalls schweigen sie wieder. Philippa zieht Charles Lins Doktorarbeit aus dem Fach der Beifahrertür, wo er sie am Mittag verstaut und vergessen hat. Gedankenverloren blättert sie darin herum, ohne ihm eine Möglichkeit zu geben, das Gespräch wiederaufzunehmen. Sein Blick richtet sich auf das nächste blaue Schild: Porto, Aveiro, Coimbra. Immer noch sind es knapp drei Stunden bis in die Hauptstadt. Den Schlüssel wird João beim Pförtner der Saldanha Residence abgegeben haben und sie am Abend zum Essen ausführen. Bis dahin ist seine Wohnung groß genug für zwei Personen, die einander aus dem Weg gehen wollen.
Noch einmal kehren Hartmuts Gedanken zurück zum Vormittag. Hastig hat er die Kathedrale verlassen, nachdem er dem Blick des Priesters begegnet war. Erst draußen wurde sein Herzschlag wieder langsamer. Kühle klare Luft und heller Granit, die beruhigende Eindeutigkeit unbelebter Dinge. Er ist geradewegs in eine Bar gegangen und hat ein Glas Wein getrunken. Davon zum Beispiel würde er Philippa gerne erzählen. Sie fragen, ob sie solche Anwandlungen verstehen kann und wie sie selbst es mit der Religion hält. Ihr erklären, dass es Dinge gibt, die man nie wieder los wird, egal wie sehr man es wünscht. Noch ein Kilometer bis zum Rasthof. Seine rechte Hand liegt auf dem Lenkrad, mit der linken fährt er über sein kratziges Kinn.
«Was mir schon die ganze Zeit auf der Seele liegt«, sagt er.»Wieso hast du eigentlich diese Kiste mit alten DVDs im Keller versteckt?«
Philippa schüttelt den Kopf.
«Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
«Die Kiste im Keller. Ich hab sie gefunden, weil ich ein Teil für den Rasenmäher gesucht habe. Amerikanische Serien und Filme, portugiesische Telenovelas und solche Sachen. Größtenteils ziemlicher Schund. «Er zuckt mit den Schultern.»Hast du dich deines früheren Geschmacks geschämt?«
Vor ihnen taucht die Ausfahrt zur Raststätte auf, und Hartmut nimmt den Fuß vom Gas.
«Ich besitze genau drei DVDs«, sagt Philippa ruhig.» Before Sunrise , weil ich früher Ethan Hawke toll fand. Before Sunset , weil mir irgendwann klar geworden ist, dass ich eigentlich Julie Delpy toll finde. Und Lisbon Story , ein Geschenk meines Vaters, weil er Wim Wenders toll findet, was ich eines Tages auch noch verstehen werde. Klug wie ich bin.«
Hartmut setzt den Blinker und ist froh, dass ihr Groll sie nicht mehr so einsilbig macht wie früher.
«Wir stehen also vor einem Rätsel.«
«Wäre ich eine Detektivin und sollte den Besitzer einer Kiste mit alten Filmen finden, dann wäre meine Ausgangsthese: Ich suche eine ältere Person, die sich nicht besonders gut im Internet auskennt. Oder jemanden mit antiquierten Vorstellungen von geistigem Eigentum. «Obwohl sie verstimmt ist, kann Philippa sich ein Kichern nicht verkneifen.»Mein erster Verdächtiger, wenn ich das sagen darf, wärst du.«
«Sehr witzig.«
Sie rollen an einer rot-weißen Tankstelle vorbei, hinter der sich linker Hand ein Restaurant anschließt. Weil die Parkplätze davor besetzt sind, fährt Hartmut nach rechts. Ein paar Holzbänke auf einem ausgedörrten Rasenstück liegen in der prallen Sonne. Die Temperaturanzeige im Auto zeigt einunddreißig Grad.
«Siehst du irgendwo Schatten?«, fragt er. Ein einziges Fahrzeug steht auf diesem Teil des Geländes, ein kastenförmiges Wohnmobil mit Bremer Kennzeichen. Die Inhaber haben sich mit ihren Campingstühlen unter eine Gruppe schlanker Pinien verzogen. Ein älteres Paar, wenn er’s aus der Distanz richtig erkennt.
«Gleich hier«, sagt Philippa. Parkbuchten sind keine markiert, und Hartmut hat das Gefühl, dass der Bremer Camper missmutig über den Rand seiner Zeitung blickt, als er den Wagen links ranfährt. Im Schatten einer jungen Platane stellt er den Motor ab. Unter der Haube tickt es leise.
«Also noch mal«, sagt er.»Die Kiste wurde ja nicht dorthin gezaubert.«
«Es sind Mamas DVDs. Wem sollten sie sonst gehören?«
«Deine Mutter schaut so was nicht. Sie hat einen sehr anspruchsvollen, um nicht zu sagen elitären Geschmack. Warum sie trotzdem Falk Merlingers Stücke erträgt, kann ich zwar nicht erklären, aber…«
«Wenn es nicht deine sind, müssen es ihre sein!«
«Die Kiste stand im Keller unter der Treppe, bei dem anderen Gerümpel. Jemand hatte eine Decke darübergebreitet, und darauf lagen noch mal Sachen, es war reiner Zufall, dass ich darauf gestoßen bin. «Obwohl sie im Schatten stehen, sickert die Hitze von draußen ins Wageninnere, sobald die Klimaanlage nicht mehr läuft. Nach wenigen Sekunden klebt ihm das Hemd am Körper.
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