Lusia hat gewiss ihre eigene Meinung zu Bush und zu Mrs Rice meinte Seymour
sie nennt sie Dr Jekyll und Mr Hyde
Mr Hyde als das demokratische Böse ich sehe schon sie legt es auf die Bewusstseinsspaltung an Seymour war halb amüsiert ich denke Bush kann wirklich abschalten er weiß nicht was er anrichtet oder er schafft es irgendwie das nicht wissen zu wollen das unterscheidet ihn von Napoleon der das zynisch in Kauf genommen und damit geprahlt hat
vielleicht erreicht er noch ähnliche Dimensionen was die Zahl der Kriegsopfer anlangt die Grande Armée bestand aus 600 000 Mann und davon kehrten 100 000 aus Russland zurück in drei oder vier Jahren –
nein keineswegs sagte Seymour erschrocken so lange werden wir dort nicht sein
weshalb aber (fragte er bald darauf als wir im Restaurant seiner Wahl saßen einer angenehm kühlen Höhle ausstaffiert mit roten Lederpolstern Damasttischdecken Silbermessern und Kristallgläsern) halten wir so still? weshalb gibt es keine Demonstrationen keine Studentenproteste im großen Stil keine wütenden Artikel-Serien dass du (er sah mich etwas mitleidig an) als Deutscher (ein Jetlag-Volk) eine Art
Beißhemmung
hast (der Holocaust der Zweite Weltkrieg die Befreiung vom Faschismus) kann ich verstehen aber was habe ich weshalb fühle ich mich nur deprimiert und gelähmt
weil deine Eltern aus Rotterdam gerade noch rechtzeitig in die USA fliehen konnten hätte ich hier einwenden sollen aber ich sagte wir seien deprimiert weil wir nichts tun könnten und erzählte ihm dann dass ich überlegte nach Tel Aviv zu gehen da ich ein Angebot für eine Gastprofessur erhalten hatte
ohne Luisa? und nur wenn Bush noch einmal die Wahlen gewinnt? oder weil die Israelis die wahren Kriegsgegner sind? was soll denn das? Seymour schüttelte den Kopf und setzte mir das Stethoskop auf die Brust: ich denke du willst alles durcheinanderbringen um bessere Gründe dafür zu haben dass du so durcheinander bist
blöder Ölbohrer! dachte ich um ihm dann unnötigerweise zu versichern dass es ebenso ein anderes Israel gäbe wie ein anderes Amerika ich bestellte ein alkoholfreies Bier (im Kristallglas) und versuchte mich zu entspannen weil ich selbst in meiner Jetlag-Eintrübung bemerken musste dass Seymour der einzige Mensch war mit dem ich noch ausführliche politische Dispute hatte und das sogar gerne (während ich mich meinen Studenten gegenüber innerlich wand und sehr gefiltert und kontrolliert sprach) und dass er auch der Einzige war mit dem ich über Luisa redete auch wenn ich ihm kaum etwas sagte Tel Aviv um meine Verwirrung noch zu steigern natürlich war es das während ich geglaubt hatte ich ginge damit näher an den Konflikt heran um klarer sehen zu können
wir denken oder
werden zu denken angehalten
dass (das Bier erschien und ich versuchte den Schaum in meinem übermüdeten Kopf wegzublasen) wir ohnehin nichts mehr ändern können wir haben paralysiert dem Angriff zugesehen weil wir was auch immer wir glaubten oder nicht glaubten dachten dass wir ihn ohnehin nicht würden verhindern können und weil wir für das massenmörderische Saddam-Regime keinen Finger rühren wollten und jetzt denken wir wiederum (oder werden wiederum zu denken angehalten) dass es
ohnehin keine Wahl mehr gibt ergänzte Seymour der sich Mineralwasser und ein Glas Rotwein (gesund fürs Herz?) bestellt hatte weil wir nun einmal dort sind und dafür Sorge tragen müssen dass der Bürgerkrieg nicht ausbricht und das Land den Übergang zur Demokratie schafft
wobei wir von den Irakern erwarten dass sie mit kaum etwas anderem vor Augen als Krieg Okkupation Gewalt und Chaos sich vor den Wahllokalen als Zielscheibe anstellen
es ist nicht leicht sagte Seymour so eine Transformation ist ein gewaltiger Prozess aber es kann jetzt im Grunde nur besser werden jeder weiß dass es sich ändern muss die Iraker wissen es und wir wissen es wir wissen auch dass sich unsere Politik verbessern muss SIE werden mehr Soldaten schicken müssen es werden bessere Leute das Sagen haben (dieser Petraeus zum Beispiel) es wird mehr und mehr die Wahrheit geschrieben werden es ist eben Politik und es ist furchtbar aber es gibt keine Alternative oder siehst du eine
zu besseren Leuten und dem Schreiben der Wahrheit hatte ich noch nie eine Alternative gesehen seltsamerweise aß ich dann mit gutem Appetit in Amerika bin ich nicht allein dachte ich in Erinnerung an meine einsamen Forschungswochen in Berlin die ich nur durch Besuche bei meiner (Rest-)Familie aufzulockern verstanden hatte (ich hatte ein Dutzend Mal der Versuchung widerstanden die Krankenschwester anzurufen) und als Seymour erneut auf Luisa kam als spürte er die wild cat mit seinen alten Ölmann-Instinkten unter der abwehrenden Oberfläche heraus
sagte ich dass Luisa ja zunächst auch nicht so einfach zurück nach Spanien habe gehen wollen da es sich bis zum unerwarteten Regierungswechsel um ein Land der so genannten Koalition der Willigen handelte und dass für sie das Attentat in Madrid im vergangenen März besonders schmerzlich gewesen sei
11 M wie 9/11
weshalb formen wir diese Brandzeichen der Geschichte es sind
Siegel
vermutete Seymour damit wollen wir den Umschlag verschließen nicht: etwas vergessen aber: etwas fassbar machen und abschließen
Luisa hatte mit großer Erregung die Debatte über die von der konservativen Regierung insinuierte ETA-Urheberschaft des Attentats verfolgt die Francisten sagte sie (als wäre keine Zeit vergangen) die den Krieg im Irak gewollt hatten mochten nun die Konsequenzen eines Al-Qaida-Anschlages nicht tragen
als 9/11-11 M-Paar (eine Freundin Luisas und ihr Mann waren auf den Gleisen vor dem Bahnhof Atocha ums Leben gekommen) überbrückten wir den April noch mit gemeinsamer Trauer und Pietät
dann aber kam Luisa besonnen und klar auf die Wahrheit oder Wahrhaftigkeit in unserer Beziehung indem –
was: indem? hatte Seymour am gestrigen Abend gefragt nachdem ich doch wieder unversehens die Schlafzimmertür geöffnet hatte es war eben vier Uhr morgens in meiner Noch-Berliner Eigenzeit und so erzählte ich was ich doch die ganze Zeit hatte erzählen wollen nämlich dass Luisa schon drei Monate vor 11 M ein zwar unschlüssiges aber doch andauerndes Verhältnis zu einem Kollegen in Amherst eingegangen sei einem mir durchaus bekannten Historiker
was heißt unschlüssig
wollte Seymour mit überraschender Schärfe wissen
es (das Verhältnis) basiere (wohl) vor allem darauf dass ich mich nicht (mehr) deutlich (genug) für sie (Luisa) entschließen könne (zumindest ihrer Meinung nach)
und deshalb gehst du einen Monat lang nach Berlin wo dir natürlich nichts klar geworden ist du würdest (sagte Seymour sehr ruhig und so entschieden dass es durch die Sperrwälle meiner weidwunden Männerseele drang) dich sehr täuschen wenn du glaubst das sei dann eine Wiederholung
Luisa ist nicht Amanda
so einfach ist das ( Öl ist in der Erde vergraben — das war der gleiche Tonfall gewesen) aber zu banal wollte ich einwenden als er auch schon deutlicher wurde und (wohl zu Recht) feststellte dass Amanda zuerst vom akademischen Leben und dann von mir und dann (teilweise — sollten wir nicht Lesley eine Postkarte schicken) von ihm weggelaufen sei während Luisa weder von mir noch vom akademischen Leben genug habe
er selbst lebe jetzt alleine
sagte Seymour und das würde sich wohl nicht mehr ändern er habe die Wohnung in der Little Brazil Street behalten und auch das Haus auf Long Island und nach einem regelrechten Streit mit seinem Analytiker der natürlich das zutiefst Regressive dieses Halten- und Behaltenwollens zum Vorschein brachte wäre er auf einen einfachen und effizienten Gedanken gekommen und habe während einer längeren Geschäftsreise sowohl das Haus als auch die Wohnung von einem Innenarchitekten komplett neu gestalten lassen ohne mehr als Umrisse seines eigenen Geschmacks zur Vorgabe zu machen
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