«Aus dem Weg gehen. Ich verstehe.«
«Das unterscheidet dich vorteilhaft von meinem Vater.«
Sie stand auf, ging zum Wasserschälchen auf dem niedrigen Tisch, netzte ihre flinke Zunge. Dmitri streckte sich, sah ins Feuer und sagte:»Ich weiß nicht, ob du ihm nicht unrecht tust. Vielleicht sieht er doch noch ein bißchen weiter, als du glaubst. Vielleicht sogar weiter als du.«
«Ach?«Die Augenbrauen, das zitternde Barthaar: Skepsis, Amüsement.
«Na ja, du hast gesagt, das Ding wächst nach innen und bleibt im Erdkreis.«
«Schöner alter Ausdruck, wie in ›Stadt und Erdkreis‹…«
«Aber was passiert, wenn es… ausgereift ist, fertig gewachsen, so was setzt sich doch nicht bis in alle Ewigkeit…«
«Bei der derzeitigen Rate scheint Katahomenleandraleal alle Planungen, die man überschauen kann und die nichts mit einer neuen, anderen Stufe ihrer Selbstverwirklichung zu tun haben, auf mindestens zehntausend Jahre angelegt zu haben.«
«Woher…«
«Ein internes Memorandum der Keramikaner. Mutter hat's geknackt. Und mir zugespielt. Vor Monaten.«
«Zehntausend Jahre, puh. Andererseits: Geologisch gesehen keine besonders imposante Zeitspanne. Was passiert dann? Sollten wir nicht doch den Heimvorteil, den wir im Moment haben…«
«Ich hoffe, daß uns die neuen Herausforderungen da draußen ganz allgemein ein bißchen auf die Sprünge helfen.«
«Flucht als Erziehungsmaßnahme. Du suchst Selektionsdruck für die Gente.«
«Werd nicht schnippisch. «Sie war jetzt ungeduldig, entzog sich einem Kußversuch.»Ich kann gar nicht fassen, mein lieber Wolf, daß wir uns hier ernsthaft darüber unterhalten, ob man meinem Alten irgend etwas zugute halten darf. Dabei liegen, was ihn angeht, ganz andere Entscheidungen an, wenn du dir klarmachst, was er getan hat.«
«Getan?«
«Dein Freund Hébert zum Beispiel.«
Dmitri blinzelte verwirrt. Er brauchte einige Sekunden, die Implikation zu verstehen:»Du meinst… der Feuerstrahl? Ich dachte, das wäre Kata…«
«Warum sollte sie so was tun? Wir sind hier mit etwas beschäftigt, womit sie einverstanden ist, was ihr bestenfalls gleich sein kann: Wir bereiten unser Verschwinden vor. Eine Aussaat auf Felder, die sie nicht haben will.«
«Aber warum sollte dein Vater…«, es nahm ihm den Atem, den Satz auch nur zu denken.
Sie grunzte verächtlich, dann sagte sie:»Um mir zu zeigen, daß er's draufhat. Er hat sich da etwas zu Herzen genommen, das ich ihm gesagt habe: daß seine dahingegangene Fledermaus…«
«Izquierda? Sie ist tot?«
«Nicht unbedingt. Aber ihm weggerissen. Vom… Zeug im Urwald, wie er sagt. Ich gab ihm zu bedenken, daß so ein präziser Schlag von seiten der übermächtigen Gegnerin seine Tollkühnheit eigentlich dämpfen sollte.«
«Ach, und deshalb… zeigt er dir jetzt, wie wenig übermächtig sie ist? Wie gefährlich im Gegenteil nun er…«
«Orbitale Killersatelliten. Und das Dümmste: Damit wird er sie nicht aufhalten, das ist doch längst versucht worden, auf Georgescus Befehl. Wußtest du, daß er sogar Atomraketen abgefeuert hat? Von Izquierda gehackte alte Verteidigungssysteme, nur jedes vierzigste Ding hat überhaupt funktioniert… sie wurden abgefangen, alle. Verpufft, verschwunden, wie die Fledermaus. Noch mal: So wird er sie nicht aufhalten.«
«Aber uns.«
«Aber uns, wenn wir nichts unernehmen, richtig.«
«Unternehmen?«Dmitri Stepanowitsch sah einen neuen Glanz in ihren Augen, den er nicht kannte und der ihm sofort widerlich war. Dies hier hatte nichts mehr mit ihrer sexy Waghalsigkeit zu tun, ihrem reizend outrierten Benehmen; hier ging es um Verschwörung und Treubruch in einem Ausmaß, das alles überstieg, woran er Anteil haben wollte.
Er schwieg, sie aber sagte, was er so deutlich nie von ihr zu hören erwartet hätte:»Stell dich nicht zimperlicher, als du bist, mein Schöner. Es ist soweit. Der Löwe muß weg.«
5. Eingekreist
Am südlichsten Rand des dritten Erdteils, den sie an sich rissen, kam der Vormarsch der Keramikaner das erste Mal zum Stehen.
In Ballons hatte der Löwe hochgerüstete Dachsenheere an die voraussichtliche Front entsandt. Die waren gelandet, hatten Befestigungen gebaut und sich darin eingegraben. Erstaunlicherweise hielt die Front. Mit großen Flammenwerfern, die Feuerstöße von bis zu hundertfünfzig Metern Länge spuckten, mit Artillerie und Perrhobaktern beschoß man die Fresser. Zwar traf man selten direkt (das Ziel verschmierte, verwischte, war nicht einmal zu fotografieren), aber wenn man traf, blieben Schalen zurück und organische Teile, wie Gliedmaßen von Menschenfrauen. Waren die Keramikaner überrascht, vielleicht verblüfft von der Heftigkeit des Widerstandes, da sie nicht weiter vorwärtsdrängten? Die strategische Analyse stand noch aus. Izquierda hätte sie vielleicht schneller erstellen können. Aber Izquierda war nicht mehr da.
Hecate, Huan-Ti, Anubis und Storikal waren wochenlang vor den Horden zurückgewichen, bis sie, auf einem Landkeil, der zur Zeit der Befreiung Schauplatz schlimmer Schlachten gewesen war, in einem Ruinental voll gelber Steine beschlossen, abzuwarten, ob die neue Front tatsächlich stabil bestehen bleiben würde.
«Sie sind einfach nur verblüfft«, erklärte Huan-Ti,»sie haben nicht mehr damit gerechnet, daß man ihnen überhaupt etwas entgegenwirft — und schon gar keine Infanterie.«
Zur Sicherheit hatten die vier sich mit überlebenden Atlantikern verständigt, die ihre Weltmeere zu größten Teilen hatten verloren geben müssen und sich nun dort konzentrieren, wo die Menschen früher ein sogenanntes» Mittelmeer «befahren hatten. Das Abkommen sah vor, daß den Helden ein flugfähiges Fischheer als Geleitschutz aus der drohenden Einkreisung zu Hilfe kommen werde, wenn die Überwachung aus dem All einen Riß in der Front finden würde.

«Pherinfone«, sagte Hecate,»da, aus dem Strauch. Es heißt — riecht ihr's? — ja, es heißt… die vierzehnte Armee ist überrannt.«
Alle vier schwiegen lange.
Dann sagte Storikal:»Ja, das heißt ja die daß, daß die ja die Fische dann kommen und uns ja rausholen.«
Es war keine Frage.
Man wartete. Die Fische kamen nicht.
«Vielleicht, ja, kommen sie geschwommen statt, ja, geflogen? Bluntsch?«mutmaßte Storikal.
Aber auch der Kanal auf halber Abhanghöhe an der Westseite des Tals der gelben Steine blieb leer (und roch, wie Anubis fand,»verheerend, als ob erst vor kurzer Zeit was Großes drin gestorben sei«).
Das Pferd sah den Tiger an und sagte:»Also rettet uns niemand. Es ist vorbei. Wir wollten Helden sein. Gut. Du hast die Pherinfone auch gerochen und kennst die taktischen Gegebenheiten besser als wir alle — wie lange, glaubst du, wird es dauern, bis sie hier sind?«
«Zwei Stunden«, sagte Huan-Ti.»Wenn die Sonne untergeht.«
«Ich weiß nicht, wie ihr's halten wollt«, pfiff Anubis und kletterte auf Hecates breiten Rücken,»aber ich werd bis zum Schluß beißen und kratzen, daß mein Angstschweiß und mein Blut in alle Richtungen von mir erzählen können, was ich für ein Kerl war.«
«Versteht sich«, sagte der Tiger,»wir sind Vorbilder.«
Das Maultier gab einen zustimmenden, wenn auch vage klagenden Laut von sich. Es hatte während der kurzen Zeit mit den Freunden vieles gelernt, das ihm im Archiv nie aufgegangen war, darunter einiges über Pflichten, Selbstachtung und Geschichte.
«Für wen eigentlich? Vorbilder?«fragte das Pferd niemand Bestimmten und trat auf eine der mächtigen Grabplatten. Dann ließ es sich von Anubis eine Zigarre anzünden.
«Für die Gente, die sich unsere Berichte antun, möchte ich meinen«, sagte der Marder und hob das kluge Köpfchen, um nach dem Chlorgeruch der herannahenden Vernichtung zu schnuppern.
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