Innere Verletzungen, innere Verletzungen. Die merkt man doch selbst oft nicht, oder? Das hört man immer wieder nach Autounfällen. Die Lunge hat nichts, aber vielleicht bin ich auf den Bauch gefallen und habe nur nichts davon bemerkt, weil die Rippe schmerzhafter war? Womöglich verblute ich gerade innerlich? Und merke es nicht?
«Glaubst du, ich habe innere Verletzungen und bemerke sie nicht?«
«Ja, einen Hirnschaden.«
«Im Ernst! Was glaubst du?«
«Ich glaube, du solltest weniger mit Daniel telefonieren.«
Samstag. Schreckliche Nacht. Die besoffenen Nachbarn haben bis drei Uhr morgens Rülpswettbewerbe veranstaltet und rumgebrüllt. Die einzige Horrorfamilie weit und breit — natürlich kommt die in mein Hotel, und natürlich kriegt die das Zimmer neben meinem. Welches sonst?
Else packt die Koffer. Ich nehme einen und ziehe ihn hinter mir her. Auf der Treppe wird es schwierig. Ich stöhne. Hinter mir höre ich jemanden sagen:
«Was ist denn mit dir los?«
Es ist der böse Raucher vom Abendessen. Ich erzähle ihm von meinem Unfall.
«Aber dann wirst du doch nicht den Koffer schleppen, gib her — ja gib her, ist doch kein Aufwand!«
Und er trägt mir den Koffer bis zum Auto, verabschiedet sich freundlich, wünscht mir alles Gute, ich sehe ihm nach und schäme mich. Es regnet.
Auf der Heimfahrt denke ich an meine Rippen, an meinen Roman, 8000 Stück, vor allem aber an die Post, die zu Hause auf mich wartet. Ich liebe es, nach längerer Zeit nach Hause zu kommen, denn es hat sich viel Post angesammelt, und da könnte irgend etwas Schönes dabeisein. Irgend etwas, eine Einladung, vielleicht sogar ein Literaturpreis. Und wenn es ein Brief von Karin Graf ist, in dem mir Geld vom Verlag avisiert wird, auch nicht schlecht. Ich freue mich auf Post.
Eine Woche Post, denke ich, noch hundert Kilometer, noch achtzig, noch fünfzig. Eine Woche Post.
Zu Hause. Ein Riesenstapel Post. Ich sortiere aus. Eine Zeitschrift, eine Rechnung, die Korrekturfahnen meines Romans, noch eine Rechnung, eine Broschüre, Werbung, eine Postkarte von Herbert Rosendorfer, wieder eine Rechnung, ein Flugblatt, auf dem für eine Autowaschanlage geworben wird, noch eines, das eine Pizzeria bewirbt, noch eine Rechnung.
Die Korrekturfahnen. Immerhin weiß ich jetzt, wieviel Seiten mein Buch haben wird und wie es innen aussieht. Und eine Postkarte von Herbert Rosendorfer. Das war’s. Eine Woche Post.
Ich setze mich an den Computer und tippe bei Google in die Suchleiste: Innere Verletzungen.
Das hätte ich jetzt nicht tun sollen.
Gegen Mitternacht kriecht Stanislaus zu uns ins Bett. Damit wenigstens einer schlafen kann, übersiedelt Else ins Gästezimmer. Es ist die dreizehnte Nacht hintereinander, in der das so geht. Ich pfropfe mir Ohropax in die Ohren, und es gelingt mir trotz des fünfzehn Kilo schweren, jammernden und zuckenden Wesens auf mir, wieder einzudösen. Alle paar Minuten bekomme ich Tritte und Püffe, die mich nie richtig tief schlafen lassen, das wäre selbst ohne lädierte Rippen schwierig.
Um sechs ist es vorbei, ich bin zwar müde, aber ich weiß, ich werde nicht mehr einschlafen. Stanislaus schnarcht. Ab und zu hebt er den Kopf und öffnet die Augen. Meist sieht er mich leer an und kippt zurück ins Kissen. Einmal lächelt er, murmelt» Papa lieb!«und küßt mich, um gleich wieder weiterzuschlafen.
Um halb neun steht er auf. Nun kümmert sich Else um ihn, und ich darf mich noch einmal hinlegen. Als ich gegen Mittag aufwache, ist mein Kopf dumpf und leer, ich vertrage diesen Schlafrhythmus sehr schlecht. Höchste Zeit, aufzustehen, am Abend hat Erwin wieder eine Ausstellung in Graz, und diesmal will ich dabeisein.
Auf dem Weg zum Naschmarkt komme ich bei der Buchhandlung Jeller vorbei. Im Schaufenster sehe ich Train Dreams von Denis Johnson liegen. Davon haben mir schon mehrere Menschen vorgeschwärmt, zuletzt der Prinz. Ich gehe hinein, obwohl ich bei Frau Jeller sonst nichts kaufe, weil sie die Angewohnheit hat, in ihrer kleinen Buchhandlung zu rauchen, was dazu führt, daß dort erstandenen Büchern noch lange Rauchgeruch anhaftet. Man kann das zickig nennen, aber ich liebe nun einmal den Duft von Papier, ich mag es, in aufgeschlagene Bücher hineinzuschnuppern.
In der Buchhandlung findet sich kein weiteres Exemplar. Frau Jeller holt mir das aus der Auslage. An der Kasse sieht sie mich forschend an.
«Sie sind aber auch ein Autor, oder verwechsle ich Sie mit jemandem?«
«Doch, bin ich«, sage ich, und um irgendwie von diesem Thema wegzukommen, frage ich nach einer Zeitschrift, die sie bestimmt nicht führt. Ein untaugliches Ablenkungsmanöver, sie lächelt mich nicht uncharmant an und sagt:
«Verraten Sie es mir?«
Da kann ich nun nicht mehr anders, zwischen den Zähnen stoße ich hervor:»Glwntsch.«
Frau Jeller nickt und lächelt, sie reicht mir den Kassenbon. Ich sage danke und bin draußen.
Der Inder hat diese Woche Betriebsurlaub, aber das fällt mir erst am Naschmarkt ein. Enttäuscht setze ich mich in den Gastgarten eines Lokals, in dem ich noch nie gegessen habe. Die meisten Sachen auf der Karte klingen schaurig, Cordon bleu, Kalbsstelze, Gebackener Emmentaler, Gebackener Leberkäse, Gebackene Champignons. Ich bestelle eine Leberknödelsuppe und Naturschnitzel mit Reis. Die Kellnerin versteht mich nicht, sie scheint erst seit kurzem in Österreich zu sein, oder es liegt an meinem Nuscheln, ich muß die Bestellung dreimal wiederholen. Ich bin gespannt, was sie mir bringt.
Während ich warte, beginne ich mit Train Dreams . Schon nach zwei Seiten ist mir klar, daß das ein ungewöhnlich gutes Buch ist. Die Geschichte mit dem Chinesen, den sie umbringen wollen und der unverständliche Flüche ausstößt, das ist anschaulich, ohne plakativ zu sein.
Suppe kommt. Schmeckt nicht besonders. Vor allem der Leberknödel gibt mir Rätsel auf, er ist so fest, daß ich ihm eigentlich mit Messer und Gabel zu Leibe rücken müßte. Es gelingt mir, ein Stück abzukneifen. Ich koste, er schmeckt — na ja, schon genießbar, aber… nein, ich will das nicht essen, das muß nicht sein.
Aber zurückschicken? Diese Diskussionen. Bloß stehenlassen? Auch Diskussionen, und das noch dazu mit der Kellnerin, die mich nicht versteht.
Ich schaue mich um. Außer mir sitzt nur eine Frau im Gastgarten, sie liest am Nebentisch ein Journal. Die Kellnerin ist nicht zu sehen. Ich starre hinüber, ob die Frau nicht zu mir herschaut, und lasse den Knödel von meinem Löffel zwischen meinen Beinen auf den Boden fallen. Natürlich dreht sich die Frau genau in diesem Moment zu mir. Sie sieht mich an, sieht auf den Knödel.
«Oha«, sage ich und rolle den Knödel mit dem Schuh aus dem Blickfeld der Kellnerin.
Ich lasse einige Zeit verstreichen, ehe ich mich an den zweiten Knödel wage. Ich bin der Ansicht, daß man Menschen mit einem intensiven Blick» rufen «kann, sie schauen dann leichter her, und hätte ich daran vorhin gedacht, wäre die Frau am Nebentisch wohl nicht Zeugin meiner Säuberungsaktion geworden. Deshalb starre ich nun vor mich hin, als ich den zweiten Knödel auf den Löffel lade, und verfolge nur aus den Augenwinkeln die Vorgänge am Nebentisch. Unter mir macht es zum zweiten Mal» Patsch!«.
Während ich auch diesen Knödel mit den Schuhen zur Seite rolle, drehe ich den Kopf. Die Frau wirft mir fassungslose Blicke zu. Ich trinke die Suppe aus. Die Kellnerin kommt und fragt, ob alles gut war.»Ja«, sage ich,»danke.«
Das Schnitzel schmeckt auch nicht besser. Ich habe keine Lust, es auf demselben Weg zu entsorgen wie den Suppeninhalt, nicht nur wegen der Frau, sondern weil ich fürchte, hungrige Hunde anzulocken. Als die Kellnerin vorbeigeht, tue ich so, als führte ich gerade ein wichtiges Telefonat, ich stoße Rufe des Erstaunens aus. Mit hektischen Bewegungen winke ich der Kellnerin. Ich deute auf mein Handgelenk, ich habe einen Termin vergessen, leider kann ich nun das wunderbare Schnitzel nicht aufessen. Ich lege einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch —»Rest für Sie!«— und renne davon.
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