Herr Babenberg wandte sich Karl von Kahn zu.
… daß Herr von Kahn ihm Turin offeriere, sei eine biographische Pointe. Vielleicht könnten sie einander führen. Zurück zu usura, anatocismo und interesse composto .
Das, sagte Karl von Kahn, seien eben die Maßnahmen, den Geldwert dem gesellschaftlich verfügten Verfall zu entziehen. Seine Geschäftsphilosophie sei empfindlich für jede Schreckensmeldung. Dann aber, je krasser die Meldung, desto spürbarer die Selbstbetörungskraft seiner Philosophie. Was ihm Angst einjagen soll, beflügelt ihn. Immer wenn er zusammenbrechen sollte, blüht er auf.
Dann geht es Ihnen wie den Erbsenblattläusen, sagte Herr Babenberg. Die schütten in Gefahrensituationen einen Geruchsstoff aus, der ihrem Nachwuchs Flügel verleiht. Wenn die Gefahren zum Dauerzustand werden wollen, dann schlüpfen aus den Eiern mehr und mehr Blattläuse, die schon mit Flügeln ausgerüstet sind. Ich hoffe, die Blattlaus-Parallele ist Ihnen nicht unangenehm.
Karl von Kahn: Für mich ist es immer das Wichtigste, daß ich nicht der einzige bin, der so ist, wie ich bin. Ich bin Ihnen dankbar für das Blattlaus-Beispiel. Je mehr Natur in einem Vorgang, desto weniger Willkür. In den Ahndungen des Marktes, die ich nicht Bestrafungen nenne, ist weniger Willkür enthalten als in allen anderen von Menschen produzierten Systemen. Der Markt hat Wirkungen, reagiert auf seine Wirkungen, hat dadurch wieder Wirkungen, auf die er wieder reagiert. So viele Kräfte der Vernunft und Unvernunft, der Hoffnung, der Angst, die zusammenwirken, auch im Gegeneinander noch zusammenwirken und im unbeherrschbaren Wechsel Hochstimmung und Panik produzieren, ein Prozeß, in dem nichts ohne Folge bleibt, aber keine Folge vorhersehbar und schon gar nicht determinierbar ist — und wenn, dann nur im zur pathologischen Anekdote abgeschnürten Extrareservat — , da darf man von einem Vorgang sprechen, der zur Natur gehört oder doch dahin tendiert. Die Wetterereignisse sind leichter zu beobachten und zu berechnen als die des Marktes, aber genausoschwer beeinflußbar. Die Moral schützt vor Verständnis. Sie konstruiert das Gute nur, um das Böse zu schaffen. Unter dem Vorwand, es zu beseitigen. Interessiert ist die Moral nur am Bösen. Der immer lebensfeindlichen Moral präsentiere ich die lebenspendende Kraft des Kontos. Sie prüfen es nicht jeden Tag, aber jeden fünften Tag schon und sehen, wie es anschwillt und anschwillt, nicht explodiert, sondern anschwillt. Sie spüren, daß Sie einen Naturvorgang erleben. Das ist Wachstum. Das geht auf Sie über, Sie wachsen mit, egal, wie alt Sie sind, das schwöre ich Ihnen. Und wenn es schwindet und schwindet, wenn es Sie leiden läßt, dann erleben Sie das auch als Leben. Verluste werden, sagt die idiotische Statistik, dreimal so stark erlebt wie Gewinne. Ja, da sage ich doch: Her mit den Verlusten. Aber es gibt natürlich keinen Gewinn, also auch keinen Verlust. Es gibt die Bewegung. Die Illusion. Ist gleich: das Leben. Übrigens, wenn Sie einmal in Ihren Kreisen Legitimierhilfe brauchen, Albert Einstein, die Zitier-Ikone schlechthin, hat gesagt, der Zinseszins sei die größte Erfindung des menschlichen Geistes.
Babenberg: Danke für die Predigt. Ist gespeichert. Warum aber der Spendierrausch Ihres George Soros? Dieser wahrhafte Weltmann! Ist das, was er uns vormacht, nicht von der Qualität einer Beichte in der Dorfkirche? Zuerst der Spekulations-Weltmeister, dann gleich der Weltmeister in der Philanthropie.
Karl von Kahn: Er ist nicht MEIN George Soros. Aber warum das moralisch messen? Was Sie Spendierrausch nennen, ist eine Wirkung der Wirkung. Soros hat den Markt mit Marktmitteln hochgereizt wie keiner vor ihm, hat irre verdient, hat gesagt: So irre darf nicht verdient werden, der Markt muß reguliert werden. Und um vor sich selber glaubhaft zu sein, spendiert er jetzt noch und noch. Allerdings wird er da doch ideologisch. Auf seiner Hundertmillionendollaruni in Ungarn sollen Menschen zu Kosmopoliten erzogen werden. Er selber sei auch einer. Merken Sie, wie da der Realismus hinkt? Kosmopolit kann man, glaube ich, nicht vor aller Erfahrung werden, sondern erst nach aller Erfahrung. Von mir aus auch umgekehrt. Das ist Ihr Fach. Andererseits: Daß Soros jetzt verkündet, es herrsche ein Mangel an echten Werten, sagt mir, daß sein Markterfolg ihn entwickelt hat. Der Markt ist von selbst das, was die Veranstaltungen der Politik und der Kunst sich zu sein bemühen: die Verbesserungskraft. Die Bankiersfamilie in Zürich, die sich zwei ununterscheidbare Superautos bauen ließ, von denen immer nur eins zu sehen sein durfte, weil die Leute nicht sehen sollten, daß man zwei solche Luxusdinger hat. Als ein Junior nach dem Motiv gefragt wurde, sagte er: Tiefstapelei und Angst. Jener Landgraf, dann Kurfürst, der seine Landeskinder verkaufte und der Reichste wurde, wollte ja auch für arm gehalten werden.
Babenberg: Sie reden von meinem nächsten Buch.
Karl von Kahn: Und schon schweig ich.
Babenberg: Zur Zeit kann ich nirgends länger als dreißig Minuten sein, ohne von meinem Buch zu reden. Ob es paßt oder nicht. Ich fang einfach davon an.
Karl von Kahn: Ich bitte darum.
Babenberg: Aber heute paßt es sogar.
Karl von Kahn: Und die halbe Stunde ist längst um.
Babenberg: Das Buch heißt Schuld und Sahne.
Karl von Kahn: Das klingt aber.
Babenberg: Und beschrieben wird die Schuldunfähigkeit des Menschen. Wer von Schuld spricht, spricht immer von den anderen, nicht von sich selbst. Schuld und Sahne. Inzwischen heißt Schuld und Sühne im Deutschen wieder, wie es dem Original entspricht: Verbrechen und Strafe. Prestuplenie i nakazanie. Die Gesellschaft hat das Recht, Handlungen Verbrechen zu nennen und Verbrecher zu bestrafen. Daß der Verbrecher sich schuldig fühlen soll, kann sie verlangen, aber nicht bewirken.
Karl von Kahn: Zur Schuldsprache in der Marktwelt: Der Hundertsekunden-Coup, the Citigroup’s notorious Dr. Evil trade, hat stattfinden müssen, weil the Citygroup was under pressure to deliver big profits in a hurry.
Frau Lenneweit hatte schon den pelzbesetzten Mantel in der Hand, die Pelzmütze reichte Karl von Kahn, es wurde ein herzlicher Abschied.
Als Herr Babenberg draußen war, sagte Frau Lenneweit, den bayerischen Volksmund variierend: Jeder Zoll ein Herr.
Karl von Kahn machte Frau Lenneweit die üblichen Vorwürfe, weil sie wieder so lange geblieben war; sie sah ihn mit abgrundtiefen Augen an. Seit Helen aus dem Haus war und Frau Lenneweit das gemerkt hatte, ohne daß es ihr gesagt worden war, wurde das allabendliche Auseinandergehen schwieriger.
Dieser Babenberg. Wenn man von Amadeus Stengl wegen seines Niveaus nicht das Allerschlimmste gewärtigen mußte — obwohl man inzwischen nichts mehr ausschließen sollte — , so galt das erst recht für Babenberg. Er war nicht der immer von sich Hingerissene wie Diego und nicht der Incasso-Beamte seiner Prominenz wie Amadeus, Babenberg war nicht … gewinnend, er warb nicht, er war nicht cool, sondern kühl. Er wirkte nicht freundlicher, als er möglicherweise war. Das war doch das Höchste.
Auf jeden Fall ein Kundengespräch der erträglichen Art. Geld ist das Apriori. Sagt schon Sohn-Rethel. Den zu zitieren hatte er vergessen. Sohn-Rethel, das war sicher ein Intellektueller nach Babenbergs Geschmack.
In der U-Bahn saß er einer braungebrannten Frau gegenüber, die den in ihren Schoß gebetteten Pudel so zärtlich behandelte, daß sie es mit Recht für angebracht hielt, die Leute um sie herum aufzuklären. Sie mache sonst kein solches Getue, aber ihr Hund, so alt wie Methusalem, sei heute operiert worden. Als sie das sagte, bemerkte Karl von Kahn die Narbe auf ihrer braungebrannten Stirn. Diese Narbe würde ihn, auch wenn die Frau nicht braungebrannt wäre, kein bißchen stören. Er war froh, daß er die Frau mit der Stirnnarbe anschauen konnte. Er würde mit dieser Frau, wenn sie es zuließe, hingehen, wohin sie wollte. Mit einer Frau, die eine Stirnnarbe hatte und einen heute operierten uralten Pudel so hätschelte, daß sie es selber für nötig hielt, das den Leuten in der U 6 zu erklären, mit einer solchen Frau könnte er sein Leben verbringen. Leider stieg sie schon an der Dietlindenstraße aus. Wenn sie am Nordfriedhof ausgestiegen wäre, hätte er ihr anbieten können, den Pudel zu tragen. Und warum war er nicht einfach auch an der Dietlindenstraße ausgestiegen? Weil er ein Idiot war.
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