Das war der Moment, in dem das Professionelle, wenn irgend möglich, mit einer privaten Farbe versehen werden mußte. Er habe, sagte er, Herrn Babenbergs Wortmeldungen im Sängersaal immer sehr genossen. Daß in Wortmeldungen eine Kritik an Diegos Monologen enthalten sein konnte, erkannte Babenberg und machte gleich weiter.
Erst vorgestern habe er im Sängersaal wirklich fast die Geduld verloren, leider sei Herr von Kahn verhindert gewesen, aber vorgestern habe Diego von den Anwesenden praktisch verlangt, auf Candide wie auf die Bibel zu schwören. Gut, Mitternacht war vorbei, alle, die noch da waren, hätten allenfalls auf den La Tâche geschworen, den Diego ausgeschenkt hatte, tatsächlich der reichste Burgunder, der im Sängersaal je in die Gläser kam. Dem Candide- Schwur waren Diego-Arien über den Zerfall des Marktes vorausgegangen, besonders des Marktes für das einzig Wertvolle, nämlich das, was er anbietet: alte Kostbarkeiten. Einige hatten noch gar nicht mitgekriegt, daß er die Brienner Straße verlassen hat, zurückgekehrt ist in die Theresienstraße.
Jetzt mußte Karl von Kahn doch dazwischensagen, daß ihm das neu sei.
Babenberg staunte, gab aber zu, daß er aus einem Nebensatz, mit dem Diego Herrn von Kahns Abwesenheit mehr verrätselt als erklärt hatte, auf irgendwelche Beziehungsveränderungen geschlossen habe. Diegos Bewegungsaufwand sei allerdings so übermäßig gewesen wie immer. Die edle Chaiselongue wird da zum Trampolin, wenn er seine siebzehn Haltungen exekutiert, vom Schlangenbeschwörer bis zum Parlamentspräsidenten. Mit dunklem Humor und heiterer Verachtung gedachte er der Kunden, die seit neuestem glaubten, ohne ihn auszukommen. Es waren die bei ihm üblichen Handelsdramen, bloß gingen sie jetzt alle eher schlecht aus, führten zu keinem Kauf. Toutes les ventes de l’hiver sind im Eimer. Le bilan de la saison: katastrophal. Beispiel Leonie von Beulwitzen, die nicht da war. Für deren aus ihrer Lebenserfahrung stammende Vorliebe, nämlich Landschaftliches ohne Menschen, hatte er ein schlechterdings fabelhaftes Bild gefunden, von Courbet die Grotte humide . Diese sich so sinnlich ins Dunkle und Dunkelste biegende Höhle sei für Leonie von Beulwitzens Sammlung das Programmbild überhaupt. Aber nein, die Magistra Leonie investiere jetzt alles in ökologische Spekulation, wohl bekomm’s. Und es wurde La Tâche auf Leonie von Beulwitzens simples Glück getrunken. Als Konversationsgewürz wurde hinzugefügt, die Magistra, die ja kaum sechzig sei, sei gerade dabei, wieder einmal zu heiraten, um sich wieder scheiden lassen zu können. Dann der Sprung zu Voltaire. Bitte, dachte man, warum nicht. Aber dann Candide . Und nur noch Candide . Eine Bekehrungsgeschichte mit Candide . Erst jetzt gelesen. Erst jetzt sei er durch Erfahrung reif geworden für dieses Buch der Bücher. Ja, weniger sei es nicht. Er habe bisher vorbeigelebt an der Welt. Dann, plötzlich, zerfällt das Verklärungskonstrukt, das er lebenslänglich gebaut und gepflegt hat. Plötzlich zeigt sich die Welt, wie sie ist. Und da trifft er auf Candide : das Vernichtungsevangelium schlechthin. Dann schwärmte dieser erfahrene Mensch von den Bilderbuchorgien des 18. Jahrhunderts. Und die Herumsitzenden sollten nicht nur zustimmen, sondern durch eigene Erfahrung bestätigen, daß Voltaires Schauerskizzen das Wahrste seien, was man je über diese Welt geschrieben habe. Da sei ihm, Babenberg, der Geduldsfaden gerissen. Vielleicht war’s auch der vortreffliche Burgunder. Wenn man gezwungen werde, sich Geschichtchen über Fabergés Rolle in der Geschichte der Romanows anzuhören, wisse man zwar auch nicht in jedem Augenblick, warum man sich das anhören solle, aber dem Fabergé-Reiz verfalle man dann doch ganz gern. Daß man aber diese Vereidigung auf das langweiligste Voltaire-Buch mitmachen soll, geht zu weit. Jeder hat natürlich einmal Candide gelesen. Diesen sinnlosen Kulturzwang gibt es eben. Und die krisengeschüttelte Diego-Situation bringt vielleicht die insgeheim längst erwünschte Sekunde, in der man es diesem Langweiler heimzahlen kann. Tatsächlich ist Candide nichts als ein aufgedonnerter Schreckensschwulst, ein ganz unattraktives Grausamkeitsprogramm. Nichts zu Herzen oder auf die Nerven Gehendes. Die krassen Schicksale der damaligen Trivialliteratur werden einer edlen Lehrtendenz dienstbar gemacht. Eine einzige Ausnahme. Und die zeigt, wie öde der Rest ist. Die Begegnung mit dem Neger im Hafen in Surinam. Die linke Hand und das rechte Bein fehlen dem. Und wir erfahren, welcher Kolonialismus daran schuld ist. Das hat Biß. Hat humane Wucht. Alles andere ist Oper ohne Musik. Ach, unser Diego! Aber jetzt kommt es erst. Kruzitürken, sagt Diego, als ich meine Candide- Schelte beende, als wolle er sagen: Das gibt es doch nicht, mir meinen Voltaire so zuzurichten. Und hat kaum Kruzitürken gesagt, da fährt ihm Gundi dazwischen. Sie sitzt wie immer neuerdings im Fauteuil à la Sirène, aber sie sitzt da ja nicht, sie ist ein Teil, und nicht der schlechteste, dieses Fauteuils. Spitz-scharf-jäh ruft sie: Diego! Der hört den Ton, weiß noch nicht, wodurch er sich den zugezogen hat, schaut also nur ergeben zu ihr hin und kriegt zu hören: Du weißt, daß ich fluchende Männer so gräßlich finde wie Männer, die ihre Muskeln für Geld zeigen. Das war nun wieder meine Sekunde. Es hätte meine Selbstbeherrschungskräfte überfordert, die so dazwischenfahrende Gundi nicht zu belehren, daß Kruzitürken alles andere als ein Fluch ist. Mit Quellenangabe: Ein Cousin in Wien hat ein Buch über die Belagerungen durch die Türken geschrieben, darin berichtet er, daß Wien sowohl von den Kurruzzen als auch von den Türken belagert worden sei. Aus dieser Kriegserfahrung mit Kurruzzen und Türken stamme der Ausruf. Gundi wollte überhaupt nicht hören, daß sie sich eingemischt hatte ohne Grund. Sie stand auf und ging. Keiner wagte, sie aufzuhalten. Am fassungslosesten war Diego. Sie flieht, sagte er strafend zu mir hin. Ich wollte noch um zivilere Wörter bitten, aber er war und blieb fassungslos. Sie flieht, sagte er noch einmal. Sie hat doch recht. In diesem Raum, in dem alles vermieden ist, was nicht beanspruchen darf, schön zu sein, da fluche ich wie eine Trachtenbedienung auf dem Oktoberfest. Also blieb ihr nur die Flucht. Diego ließ uns jetzt spüren, daß die dreißigtausend Erdbebentoten von Lissabon, die bei Voltaire den Candide ausgelöst hatten, und Gundis Flucht zwei gleichermaßen weltbelehrende Ereignisse sind.
Und Karl von Kahn: Man kann sich, was einen lehrt, nicht aussuchen.
Er habe es, sagte Babenberg, immer attraktiv gefunden, daß Diego von seinen Gästen beneidet werden wollte. Wie er das als Lust verkaufte, von seinesgleichen beneidet zu werden, das sei immer großartig gewesen. Jetzt aber die Nötigung, ihn zu bedauern, mit ihm zu trauern. Also peinlicher sei ihm, Babenberg, noch nie etwas Gesellschaftliches gewesen. Deshalb sei er, als Gundi geflohen war, aufgestanden, habe, was jetzt nicht paßte, à la Jérôme Morgen wieder lustig gesagt und sei gegangen. Im Hinausgehen habe er gedacht, er, wie Diego zum dritten Mal verheiratet, müßte den eigentlich verstehen. Allerdings, wenn seine Dritte fliehen, das heißt den Vertrag kündigen würde, wäre er ruiniert. Womit er angelangt sei bei dem Grund seines Besuchs. Geld sei bis jetzt immer die einfachste Form der Bestätigung gewesen. Jetzt bleibt es aus. Sein Vater hat Geld verachtet. Als bayerischer Beamter konnte er sich das leisten. Beamte sind Engel ohne Flügel, hat er behauptet. Zum Schluß Parkinson, und Daumen und Zeigefinger der rechten Hand machten dann ununterbrochen und ununterbrechbar die Geldzählbewegung. Wenn er sah, daß man hinschaute, deckte er diese Hand mit der anderen zu. Er, Babenberg junior, hat auf seinen Konten zwar Geld, aber plötzlich wird ihm klar, uralt darfst du nicht werden. Und die drei Frauen plus Kinder! Und alle reden auf einmal vom Geldanlegen. Der Börsenbericht abends will wichtiger sein als der Wetterbericht. Ob sich Herr von Kahn vorstellen könne, wie einem zumute sei, der trotz aller biologisch verordneten Resignationen im Innersten immer noch glaubt, Geld müsse man selber verdienen und nicht andere für sich verdienen lassen. Bitte, er möchte nicht mit den Kollegen verwechselt werden, die ihr Leben in einer Moralerstarrung verbracht haben, aus der sie durch keine Erfahrung erlöst werden wollen. Diese Kollegen könne er in all ihren Hervorbringungen schätzen oder auch bewundern, nur eben nicht in ihrem linken Eo-ipso-Bessersein. Loben und preisen wir doch die katholische Kirche. Ganz bescheiden hat sie die Unfehlbarkeit auf eine Person beschränkt, und auch dann noch auf das Spezialthema Glaubens- und Sittenfragen. Die Linken, und zwar vom feinsten Marx über den weltweiten Professor bis zum gröbsten Ortsverein, sie kennen den Zweifel nicht. Den Papst macht der Heilige Geist unfehlbar, den Linken seine Moral. Wer sehnte sich da nicht nach dem Heiligen Geist. Nun trainiert er das Nicht-eo-ipso-Besserseinwollen schon ziemlich lange. Aber sobald es ums Geld geht, melde sich diese Altmahnung: Geld muß man selber verdienen. Aber jetzt verdiene er eben keins mehr. Soll er jetzt Angst haben, daß er länger lebt, als er finanzieren kann? Soll er lernen, sich zu freuen, wenn der Doktor sagt, eine melanomöse Entartung im epidermal-korialen Grenzbereich ist nicht auszuschließen? Da ihn Herrn von Kahns Zuhörfähigkeit geradezu verführe, gestehe er auch noch, daß ein Cousin von ihm ein hohes Tier in einer Wiener Bank sei, den habe er, wann immer der mit seinen unerbetenen Belehrungen angetanzt kam, merken lassen, daß er Geldleute nicht so ernst nehmen könne wie sie sich selbst. Und jetzt sitze er vor einem Geldmenschen und lege Geständnisse ab.
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