Babenberg: Sie panzern sich mit Instinkten gegen den Panikhorizont von dreihundertsechzig Grad, gegen das fleißigste Gerücht des Jahrzehnts, das ausschreit, daß die Armen ärmer und die Reichen reicher werden.
Karl von Kahn: Jetzt sind Sie auf der guten alten Schiene gelandet. Aristoteles, Thomas von Aquin und Karl Marx singen unter Ihrer Stabführung im Chor die Antikapitalistenarie vom bösen Zins. Wucher, dröhnt es durch die Jahrhunderte.
Babenberg: Ich wiederhole, daß die Reichen reicher werden und die Armen ärmer.
Karl von Kahn: Matthäus 25, 26: Denn wer hat, dem wird gegeben; und wird im Überfluß haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.
Babenberg: Genau! Heute nennt man’s Globalisierung.
Karl von Kahn: Weil Sie kein Kunde sind bei mir, lesen Sie nicht meine Kunden-Post. Vor zwei Wochen war da zu lesen Matthäus für Anleger . Es ist hörenswert, wie Matthäus den von der Reise zurückgekehrten Herrn seine Diener prüfen läßt. Einem hat er, bevor er verreisen mußte, fünf Talente Silbergeld gegeben, dem anderen zwei Talente, wieder einem anderen ein Talent. Jedem nach seinen Fähigkeiten, sagt Matthäus. Sobald der Herr weg war, begann, sagt Matthäus, der Diener, der fünf Talente erhalten hatte, mit ihnen zu wirtschaften, und er gewann noch fünf dazu. Der mit den zwei Talenten gewann zwei dazu. Der, der ein Talent bekommen hatte, grub ein Loch in die Erde, darin versteckte er das Geld seines Herrn. Luther schrieb nicht, der mit den fünf Talenten begann zu wirtschaften, Luther schrieb: und händelte mit den selbigen. Dann kommt der Herr zurück und lobt die, die mit fünf beziehungsweise zwei Talenten einhundert Prozent Gewinn gemacht haben. Er wird beiden, sagt er, in Zukunft größere Aufgaben übertragen. Der, dem er ein Talent anvertraut hat, sagt jetzt: Herr, ich wußte, daß du ein strenger Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast; weil ich Angst hatte, habe ich das Geld in der Erde versteckt. Hier hast du es wieder. Der Herr beschimpft ihn. In der heutigen Übersetzung liest sich das so: Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten. Bei Luther hieß es noch: So soltestu mein geld zu den Wechslern gethan haben, und wenn ich kommen were, hette ich das meine zu mir genomen mit wucher. Jetzt die Moral von der Geschichte, und es ist eine rein wirtschaftliche Moral: Darumb nemet von jm den Centner und gebets dem, der zehen Centner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und wird die fülle haben. Wer aber nicht hat, Dem wird auch das er hat genomen werden. Das ist Klartext: Gebt Geld denen, die’s vermehren können. Was heute Talente genannt wird, hieß bei Luther Centner. Bei Matthäus folgt darauf, daß man auch mildtätig sein soll. Kein Wort gegen die so ins Recht gesetzte Geldvermehrung.
Herr von Kahn überreichte Herrn Babenberg das Exemplar der Kunden-Post, aus dem er vorgelesen hatte.
Babenberg: Eine hübsche Auslegung haben Sie sich da zurechtgemacht.
Karl von Kahn: Ich bin Matthäus gefolgt, Wort für Wort. Auch unsere Gescheitesten haben nur so simpel denken können: Einer leiht sich Geld, gibt es aus und soll mehr zurückzahlen, als er sich geliehen hat, pfui! Aber schon bei Matthäus wird Geld nicht ausgegeben, sondern angelegt. Einhundert Prozent Gewinn. Er habe gerade in Genua seinen italienischen Geschäftsfreund, der arbeite bei der ehrwürdigen Carige, gefragt, wie Zinseszins auf italienisch heiße. Zins, italienisch: l’interesse , wie kann daraus Zinseszins werden? Und siehe da, drei Wörter, sagt ihm Federico, gibt es für Zinseszins im Italienischen, wo wir ja das Geldwesen gelernt haben: usura, anatocismo und l’interesse composto. Usura ist dann die der Moral dienende Variante, Wucherzins. Anatocismo komme als griechisches Importwort schon bei Cicero vor: Anatocismo anniversario stehe bei Cicero. Wenn ich meinen schlanken Federico richtig verstanden habe, ist tókos der Zins im Griechischen und anatokós wäre der Zins auf den Zins. Das war also immer schon so. Aber jetzt wie noch nie. Und das wird Ihnen in Genua erklärt, während Sie an der Oper vorbeischlendern, wo die Komponistenfahnen wehen, die schönsten Musiknamen überhaupt, hinüber zum Matteotti-Platz, an Fassaden entlang, an denen sich die Augen erholen können von dem, was bei uns aus dergleichen wurde. Er ist noch nie von Genua zurückgeflogen nach München. Hingeflogen immer. Zurück nie. Wegen Turin. Immer mit dem Zug noch nach Turin. Turin, die städtisch gebändigte Pracht. Weil die Palazzi so fensterreich sind, sind sie, obwohl sie so groß wie schön sind, Stadthäuser. Sein Lieblingsbau unter diesen Prachtsbauten, der Palazzo Carignano. Gebaut von Guarino Guarini. Er hat große, gewaltige Gebäude bauen müssen, hat aber offenbar keine leeren Flächen ertragen, eine bloße Wand, eine nackte Wand muß für ihn der reine Schrecken gewesen sein, darum Fenster an Fenster, und oft genug werden die Fenster noch überworfen mit steinernen Schals, und überall wuchert der Stein in ein Muster, wie unsereins kritzelt, wenn er kein leeres Papier aushält. Ich muß Ihnen jetzt, daß Sie ihn noch ein bißchen ernst nehmen können, die Wörter aufsagen, die aufgeboten werden, um Guarino Guarini vorstellbar zu machen: eccentricità, eccezione, eccesso, singolarità, estrosità, bizzarria, cappriccio, stravaganza, esagerazione , kurz una superbissima vista . Das Wort Fassade hat bei uns mit Recht keinen ungetrübten Ruf. Unsere Fenster sind leblose Öffnungen in zweckdienlicher Verteilung. In Turin sind die Fenster die Fassade, diese mit steinernen Schals überworfenen Fenster. Ohne diese Schals frören sie. Mit ihnen träumen sie. Da schauen Sie bei mir hinaus. Die Vereinsbank- Fassade. Eine Fassadenvisitenkarte nach dem Prinzip Zuviel ist nicht zuviel. War ja auch hundert Jahre nach dem Turiner Baurausch. Alle Paläste, Kirchen, Kastelle, 1640 bis 1680, in nicht mehr als vierzig Jahren gebaut. Liberare gli scenari. Da darf’s einem doch ganz anders werden. Daß er jetzt so ins Schöne abgeschweift ist, überrascht ihn mindestens so wie wahrscheinlich auch Herrn Babenberg. Und da ihm am Anfang dieses Gesprächs danach war, möglichst wenig Zensur auszuüben über sich selbst, ist ihm diese Kurve ins Großitalienische passiert. Er entschuldigt sich nicht. Sagt lieber dazu, daß das Motiv dieser Abweichung gewesen sein könnte, in Markus Luzius Babenberg eine Neugier auf Turin zu wecken und sich dann gar als Reiseführer anzubieten. So etwas muß nicht, darf aber durchaus folgenlos bleiben. Wenn Geldvermehren nicht zu einer Pflicht geworden wäre, zu einer Pflicht seinen Kunden gegenüber, wäre er längst nach Turin gezogen. Zurück zum interesse composto …
Momentino, rief Herr Babenberg, sprang auf und ging hin und her, als wolle er vermeiden, unbeherrscht zu reagieren. Dafür, daß er so groß und langbeinig war, machte er recht kleine Schritte. Er bremste sich. Also bitte, sagte er dann und sagte es nicht zu Karl von Kahn hin, sondern in den Raum hinein, also bitte, Pathos darf sein. Jeder ist auf einer Wallfahrt zu einem, zu seinem Heiligen. Unser Diego zu seinem gelenkigen Voltaire, Sie zu Ihrem findigen Warren Buffett und Markus Luzius Babenberg ist, solange er noch beten konnte, Friedrich Nietzsche nachgereist, hat fromm alle seine Adressen abgeklappert, die Türklinken in der Hand behalten, weil sie aussahen, als seien sie’s noch. Ihn berührt, was er berührt. Er ist ein Berührer. Er läßt jedem seinen Hausheiligen. Für ihn war möglich nur Dostojewskij oder Nietzsche. Die Sprache hat’s entschieden. Aber er war nicht in Turin. Glücksfund, hat Nietzsche Turin genannt. Er, Babenberg, hat die letzte Adresse, Via Carlo Alberto 6, dritter Stock, nicht geschafft, und von da aus hat Nietzsche den Palazzo Carignano gesehen, und er, Markus Luzius Babenberg, hat es nicht geschafft, die Piazza Carlo Alberto zu betreten, das Pflaster der Katastrophe, das Nietzsche-Golgatha, der Gekreuzigte war ja dann er, aber jetzt …
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