Und jetzt? Stornier’s. Weigere dich. Laß dich von diesem Wort nicht tyrannisieren. Wenn die Sprache gegen das Leben spricht, soll sie schweigen. Basta. Du bist abhängig wie noch nie. Du hast von Unabhängigkeit geredet wie der Fisch vom Vogel. Sei hinaus über das, was dich nicht faßt.
Daß er sich außerhalb der gewöhnlichen Rechtszusammenhänge fühlte, mußte er nicht bedauern. Er hat sein Pflicht- und Anstands- und Zurechnungsfähigkeitssoll abgeliefert. Er hat es verdient, beurlaubt zu werden, und sei’s für immer. Sei, was er tut, ein Verbrechen. Man kann etwas auch als reines Verbrechen begehen. Man ist dann im reinen mit sich. Strabanzer müßte das als Kalauerfügung gelten lassen. Hülfe es, wenn er sich im Augenblick für unzurechnungsfähig hielte? Gut, sag, du seist jetzt unzurechnungsfähig. Das macht dich kein bißchen zurechnungsfähiger. Er hat auch nichts dagegen, krank zu sein. Deine Krankheit heißt Liebe. Keinen Blick mehr für irgendwas. In der Stirn ein Rad. Brennend. Du blühst. Und möchtest durch Drandenken sterben.
Als dreihundert Sekunden vorbei waren, rief er wieder an. Und ließ es noch länger läuten. Das hat etwas, dieses Telefonschrillen in einem leeren Zimmer. Der genaue Ausdruck dafür, daß du nichts zu verlangen hast. Null Anspruch. Null Anrecht. Null Legitimität. Lehne die Wörter ab. Beherrscht wirst du von ihnen. Du hoffst aber. Du erwartest ohne Grund und Recht und Sinn. Nein, du erwartest nicht. Du wartest. Das ist es. Das ist alles. Du wartest. Sonst ist nichts. Du investierst ins Nichts. Das ist es. Das ist alles. Du willst nur von Joni hören, wie die das gemacht hat, den sorgfältigen Beischlaf. Also eine Liste aller Bewegungen und aller Zeitabläufe und aller Kraftanwendungen. Was haben die wann, wie, wie lange, wie oft gemacht. O bitte, und mit welchen Wörtern, Sätzen, Lauten. Dann der Pseudo-Dostojewskij. Karl hatte vor Jahren Schuld und Sühne gelesen. Er hatte sich damals gewünscht, ein Untersuchungsrichter wie Porfirij Petrowitsch nehme sich seiner an und verhöre ihn so bis in den Grund hinein. So verhört zu werden, das hieße, es interessiert sich jemand ganz wahnsinnig für dich. Und durch dieses grenzenlose Gefragtwerden würdest du, weil du, um nicht verurteilt zu werden, antworten müßtest, deiner selbst inne werden wie nie zuvor. Daß Joni überhaupt Kontakt ertrug mit einem Kerl, der sich Dostojewskij nennen ließ! Bart und lange Haare, und so was darf einer Joni Jetter das Küssen beibringen. Als Kunst! Und sie kann bis heute noch nicht sagen, wie und was der gemacht hat. Er hat meinen Mund entdeckt! Na bitte. Aber erst danach, als sie sich die Verfügungshoheit für ihren Mund hat abnehmen lassen, hat er begonnen, das wachgeküßte Ding zu dem zu machen, was er brauchte. Da ging er dann los auf sein Täubchen, der große russische Leidenszampano, mit keinem anderen Ziel, als dieses Täubchen zum elendesten, erbärmlichsten Gurren zu bringen und es dann, wenn es durch Serien von Selbsterniedrigungsorgien nichts als gar war, unter Zuhilfenahme russisch-religiöser Verbrämungen genußvoll zu verspeisen. Und den ganzen Rummel und Rammel auszugeben als die einzig mögliche Vorbereitung auf die Schauspielkunst. Das werden Sie mir büßen, Herr Rasputinski. Dem Pausbackenheini wird er sagen, daß er ihm den jedesmal fünfundvierzig Sekunden dauernden Beischlaf verarge. Diese Frau, und dann das. Warum hat Joni das monatelang mitgemacht? So mitgemacht, daß es der dann wagte, sie zu sich ins Familiäre einzuladen, um seine Pausbäckigkeit von zwei Frauen betatschen zu lassen. Überhaupt: Viel mehr als über die Praktiken mit diesem und jenem mußte er erfahren, genau erfahren, wie es Joni jeweils dabei zumute war. Beim Pseudo-Dostojewskij auf dem Teppichboden, bei verzehrend leiser Musik, dann er über ihr, an ihr, als sei sie ein Uhrwerk und er der einzige Mensch auf dieser Welt, der dieses noch nie in Gang gekommene Uhrwerk zum Gehen bringen könne. Das tat dann weh, hat sie gesagt. Und je mehr es ihr weh tat, desto sicherer wußte der, daß er auf dem richtigen Weg war. Wenn ihr die Tränen kamen, jubelte der, war dann schnell fertig. Und ließ sie liegen. Und quatschte drauflos: Was jetzt in ihr vorgehe, mache sie zur großen Schauspielerin. Was jetzt in ihr tobe, dürfe nicht zerquatscht werden, das wirke, bilde die Kraft, die den Ausdruck will.
Aber sie hat nicht gesagt, wie sie das erlebt hat. Karl weiß viel zu wenig von ihr. Der Akademiker hat mit Joni nie ohne Kondom geschlafen. Eine angenehme Vorstellung. Wenn man wüßte, wie das vor sich ging. Hat sie ihm das Zeug feierlich-andächtig übergezogen, oder hat er … Wie soll man damit leben? Ob sie Karls linkes Bein entdeckt hatte? Das war zehn Jahre älter als er. Die Innenseite sah aus wie eine verwaschene weißblaue Bayernflagge. Ein Gorgonzolagelände. Er hoffte, es sei ihm gelungen, dieses Adernelend vor Joni zu verbergen. Ein Blick darauf, und sie würde schrill lachend davonrennen. Die One Issue Group hatte sie Krampfaderngeschwader genannt. Hätte sie das getan, wenn sie sein Blue-Cheese-Bein gesehen hätte?
Um fünf nach elf rief Karl von Kahn nicht mehr das Zimmer, sondern den Empfang an.
Moment. Dann: Die Dame ist im Haus, aber sie ist nicht auf ihrem Zimmer.
Danke.
Stundenlang haben sie heute Textarbeit gemacht. Jetzt also noch Quatschen. Klar. Aber ins Quatschen durfte er genausowenig hineinrufen wie in die Textarbeit. Ich rufe dich an. Die Sprache drückt vollkommen aus, was da passiert. Ich rufe dich an! Erhöre mich. Und so weiter. Daß sie im Hotel war und nicht zurückrief, hieß einiges … oder schon alles.
Karl öffnete eine Flasche Lafleur, Pomerol, 1983. Eine Gewohnheit. Wenn er sich zu nahe kam, trank er ein Glas oder drei Gläser Bordeaux.
Er sagte: Zum Wohl. Und trank sich zu. Und sagte: Sei nicht so aufdringlich, Mensch. Ja, du dir! Laß dich in Ruhe!
Wenn man später glaubt, es schwer gehabt zu haben, macht sich das angenehme Gefühl breit, der Welt nichts schuldig zu sein. Zum Wohl!
Als er Joni beim letzten Gespräch vor der Reise gefragt hatte, in welchem Hotel sie in Berlin wohne, hatte sie gesagt: Gute Frage. Er hatte den Eindruck, sie versuche die Antwort so hinauszuzögern, daß er vergesse, noch einmal zu fragen. Er hatte zwar nicht sofort, aber später im Gespräch noch einmal gefragt. Sie hatte das Interconti genannt, allerdings mit dem Zusatz: Nervensäge.
Wenn er sie um Mitternacht auf dem Handy anriefe, sie, mitten im entspannenden Gequatsche in der Bar, dann war er endgültig die Nervensäge. Aber sich selbst war er auch nichts anderes als eine Nervensäge. Er hätte, als sie ins Bad gegangen war, nicht im Bad auftauchen dürfen. Das war sein schlimmster Fehler überhaupt. Das Blue-Cheese-Bein hatte er weggeschummelt, den Körper im Morgenmantel geborgen, aber sein Gesicht neben ihrem Gesicht im Spiegel. Zerrissen, verformt, vergnomt, das war kein Gesicht mehr, das war eine Verschwörung. Dann sofort sein Versuch, aus der Visage ein Gesicht zu machen. Schicksalsblick, Trauerschmacht, Schmerztrotz, Heroenrotz. Und das neben ihrem erfahrungsfreien Gesicht, das am Morgen, ungeschminkt, so schön ist wie die Welt eine Sekunde vor ihrer Erschaffung. Daß er nicht im Religiösen vergehe, schiebt sie den kleinen Finger ihrer linken Hand ein wenig, nur ein kleines bißchen in ihren Mund, ziemlich weit links draußen. Aber nicht nur zwischen die Lippen, sondern zwischen die Zähne. Und ein Gesichtsausdruck, als beiße sie ein wenig auf diesen kleinen Finger. Das kam dir als Geste, als Ausdruck bekannt vor. Er war glücklich, daß er der Anlaß war für diese Geste. Karl liebte das Nachgemachte. Das Nachgemachte ist das Reichere. Du hast sowohl das Original als auch das Nachgemachte. Du kannst vergleichen. So wie jetzt bei Joni hatte er diese Geste noch nie gesehen.
Jetzt, in dieser Nacht, will sich in dir die irrsinnige Hoffnung bilden, Joni habe im Spiegel nur sich selber angeschaut, also den Schrat aller Schrate neben sich gar nicht bemerkt. So muß es gewesen sein, sonst wäre sie doch sofort davongerannt. Nie mehr mit ihr vor einen Spiegel. Was hatte sich in ihr über ihn gebildet? Bisher hatte er nie begriffen, wieso für den Geschlechtsverkehr eine besondere Wertschätzung nötig sein sollte. Eine hygienische, ja. Aber mehr nicht. Dann diese Art Spaß. Mußte man jemanden, mit dem man Tennis spielen wollte, lieben? Küssen gehört dazu. Er hätte es nicht gebraucht. Aber bitte. Man tut es, weil man weiß, es lohnt sich. Nachher. Eine Investition. Und Joni? Entsetzlich, wenn sie so dächte, wie er gedacht hatte.
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