Bis Strabanzer das Geld braucht, wird es dasein.
Sollte Karl wirklich so tun, als wolle er das Drehbuch lesen, bevor er einstieg? Nein. Er wollte das Drehbuch allenfalls lesen, weil Strabanzer als seine Ästhetik angekündigt hatte: Am Leben entlang. Da durfte man gespannt sein. Theodor Strabanzer war kein Luftikus, kein Hochstapler, schon gar kein Betrüger. Erstaunlich genug, daß er Strabanzer aushielt, obwohl der doch offensichtlich Jonis Liebhaber war. Gegen Strabanzer mußte er nichts unternehmen. Noch nicht. Joni hatte bis jetzt noch keine Strabanzerschen Bettgesten geliefert. Karl konnte sich mit Strabanzer nichts vorstellen, was ihn so gepeinigt hätte wie der Meister des sorgfältigen Beischlafs, wie der Kußpädagoge und Erniedrigungsspezialist Pseudo-Dostojewskij und der Schaum-Schwamm-Moschus-Lavendel-Fürst. Den pausbäckigen Dreier-Propagandisten nicht zu vergessen. Vielleicht hat so eine Troika stattgefunden, und Joni hat es nicht gestehen können. Zu dritt, das konnte er sich nur als eine Service-Groteske vorstellen. Besser gar nicht. Zu Strabanzer mußte Joni noch Material liefern, damit eine Art Vorstellbarkeit möglich wurde. Karl würde gegen Strabanzer vorerst nichts unternehmen. Strabanzer war ein Leidensvirtuose, basta.
Über das Tagesgeschäft hinausgehende Entscheidungen hatte Karl von Kahn immer von seinem Gefühl abhängig gemacht. Dieser Strabanzer war durch Verletzungen geworden, wie er jetzt war. An diesem Tiroler-Katalanen kam Karl einiges verwandt vor. Je bedrohlicher der Horizont sich näherte, um so heftiger blühte die Illusion, unbesiegbar zu sein. Und von dieser Illusion konnte man zehren. Von ihr lebte man. Sie ist die Kraftquelle schlechthin. Außer ihr ist nichts …
Er rief Joni an. Per Handy. Er wollte nichts wissen, nicht stören, nicht einmal hören, ob sie gut gelandet sei in Berlin, er wollte nur sagen: Ich liebe dich. Sie sollte, da sie sicher in einer beruflichen Situation eingeklemmt war, nichts sagen. Er rief einfach an.
Sie sagte: Jaa.
Er meldete sich, sagte seinen Satz und daß er nichts wolle als diesen Satz sagen.
Sie sagte: Du wirst immer anrufen, wenn es am wenigsten paßt.
Er entschuldigte sich.
Sie sagte: Bis später.
Das war eine Verabredung. Damit konnte man doch leben, den Tag verbringen. Dr. Dirks Bericht über die Med-Tech- Tagung lesen, sich von Berthold Brauch über die neuesten Bloomberg-Nachrichten informieren lassen und die guten alten Zeitungen studieren.
Er hatte Joni gestört. Aber wenn sie in einer Situation mit Frauen gewesen wäre, hätte sie anders reagiert. Schon ihr erstes Ja hieß: Was soll denn das! Sie mußte den Männern, mit denen sie zusammen war, beweisen, daß dieses Zusammensein mit ihnen ihr wichtiger war als jeder überhaupt denkbare Anruf. Kein Mann der Welt war ihr wichtiger als die Herren, mit denen sie da zusammensaß. Sicher beruflich. Und trotzdem waren das Männer.
Kann etwas, was unmöglich ist, noch unmöglicher werden? Karl wollte sich hinüberretten in etwas Sprachliches. Wenn er spürt, daß er sich unmöglich gemacht hat, daß er unmöglich ist, jetzt, dann kann er durch nichts, was er tut, noch unmöglicher werden. Alles, was du tust und denkst, ist schon vernichtet, bevor du es tust und denkst. Alles, was du willst, ist vorvernichtet. Alles, was du zu Joni gesagt hast, ist nichts wert. Und da hörst du den Satz, den dein Vater, wenn er in Nürnberg von der Flakstellung auf einen Halbtagsurlaub heimkam, sagte: ’s hat alles kein’ Wert. Und die Mutter hat dann gesagt: Furchtbar.
Karl hatte das Gefühl, wie er jetzt da sitze, sei er ein Buddha aus Blei.
Daß sie jetzt nicht ansprechbar ist, kann auch heißen, ein alles beanspruchender Mann ist erschienen und hat sie mit sich ins endgültig Unerreichbare fortgerissen. Karl sah das Paar über weiße Wolken ins schwarze Licht reiten.
Dr. Dirk trank Tee, Berthold Brauch stilles Mineralwasser, Karl von Kahn, Frau Lenneweit und Frau Leuthold tranken Kaffee. Karl von Kahn hatte ins Konferenzzimmer gebeten. Sein Puma- Verkauf betraf zwar nur sein Privatportfolio, trotzdem wollte er zum besten geben, was er vorhatte: Zwei Millionen für einen Film.
Berthold Brauch sagte, er wisse, daß Herr von Kahn wisse, daß die Staatsanwaltschaft gerade bei mehreren Medien-Anbietern kistenweise Akten abgeschleppt habe, daß VIP 5 und VIP 6 gerade vom Markt genommen worden seien und daß der alles Wissende Stefan Loipfinger vorausgesagt habe, alle filmfinanzierenden Häuser müßten mit dem Staatsanwalt rechnen. Auf jeden Fall stünden Rückabwicklungen noch nicht dagewesenen Ausmaßes bevor, und wenn dergleichen beim führenden Medienanbieter VIP passiere, warte man besser ab, bis das Beben verebbt sei. Aber da Herr von Kahn das alles selber wisse, sei nur noch interessant, warum er sich gerade diesen Augenblick der größten Unsicherheit für einen Zwei-Millionen-Einsatz ins Mediengewerbe ausgesucht habe.
Karl von Kahn dankte. Dankte herzlich und lachend. Und entschuldigte sich, weil er nicht zuerst mitgeteilt habe, daß er die zwei Millionen nicht investiere, um Steuern zu sparen. Das ganze Branchenbeben der Medienanbieter sei ja nur eine Affäre, weil die Staatsanwälte die Verlustzuweisungen anfechten. Also, er investiert zwei Millionen in einen Film, einfach weil er das Gefühl hat, diese Gesellschaft, sie heiße Bocca di Leone, ist es wert, daß man einspringe, wenn da aus ehrbaren Gründen gerade zwei Millionen ausgefallen sind und dadurch ein unbezweifelbar großartiger Film, nämlich Das Othello-Projekt, nicht zustande käme.
D’accord, sagte Berthold Brauch. Meine Warnung bezog sich nur auf das hier übliche Motiv der steuerbegünstigten Verlustzuweisung. Da wäre im Augenblick Vorsicht geboten, der Fiskus rast.
Dr. Dirk sagte, wahrscheinlich sei der Lustfaktor bei einer Filmfinanzierung wichtiger als bei jedem anderen Geschäft, deshalb wäre es töricht, den Lustfaktor in den Spiegel einer schlichten Kalkulation sehen zu lassen oder aufzuzählen, wie viele Filme ihr Geld nicht eingespielt hätten. Er ziehe es vor, Herrn von Kahn zu diesem freudigen Ereignis zu gratulieren.
Karl bedankte sich. Daß sein Verstand trotz des unbezweifelbaren Lustfaktors noch nicht ganz getrübt sei, hoffe er dadurch zu beweisen, daß er die für 193 gekauften Puma- Stücke erst bei 225 verkaufe, die dann verdienten 16 Prozent minderten den riskierten Posten um dreihundertzwanzigtausend.
Auguri, sagte Dr. Dirk. Und es könne sein, daß Herr von Kahn schon ein bißchen Glück brauche, bis Puma wieder auf 225 klettere, das könne, so wie das Papier jetzt flattere, noch etwas dauern.
Karl nickte und sagte triumphierend: Der Regisseur ist übrigens Theodor Strabanzer.
Alles paletti, sagte Frau Leuthold sofort. So ein schöner Film. Wie sie einander das schöne Mädchen abjagen.
Frau Lenneweit, die offenbar keine Strabanzer-Filme gesehen hatte, nickte zu dem, was Frau Leuthold sagte, als habe sie Frau Leuthold das Wort erteilt und sei zufrieden mit dem, was Frau Leuthold aus ihrem Wortbeitrag mache.
Der Strabanzer-Film Tod des Fotografen, sagte Berthold Brauch, sei eine Zeit lang sein Lieblingsfilm gewesen, weil er noch nie einen Kriminalfilm gesehen habe, dessen Handlung so sinnvoll sei. Die Liebe zur Mutter als Krimi-Motiv! Großartig!
Und Dr. Dirk: Dieses Mädchen in Alles paletti, diese nur erratbare Traurigkeit eines Mädchens, das nie Gelegenheit hat zu sagen, was sie denkt über das, was mit ihr da passiert.
Karl von Kahn stand auf und sagte, diese Sitzung habe ihn gestärkt. Er gestehe, daß er kein Kinogänger sei, aber Theodor Strabanzer, halb Tiroler, halb Katalane und Verehrer Buñuels, habe ihn für sich gewonnen.
Hatte Joni gesagt: Bis später oder Bis bald oder Bis nachher? In Zukunft jedes Telefonwort von ihr mitschreiben. Das war überhaupt seine Gewohnheit, jedes Telefongespräch mitzuschreiben. Und bei Joni tut er das nicht! Wahnsinn.
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