Sollte er genau notieren, was alles Joni sich selber vorwirft? Sie macht sich sogar herunter. Männer haben sie gekriegt, weil sie nicht weiß, was sie wert ist. Und er kriegt sie, wenn er sie kriegt, auch nur deshalb. Als sie zum ersten Mal im Hotel im Ausland telefonisch Nadeln bestellte, auf englisch, da wurden ihr Nudeln gebracht. Nach vier Semestern Englisch. Ihre Selbstherabsetzungsroutine nutzen? Nein. Er ist von ihr nichts als begeistert. Wenn er sich in ihrer Sprache erklären wollte, mußte er sagen, er sei total durchgeknallt. Aber wenn er ihr nichts ist, dann ist alles nichts. Sie mit seinem Ernst erpressen, idiotisch. Und doch ist das bisher das einzige, was er einsetzt.
Und rief sie an. Auf ihrem Handy. Zweimal läutete es, dann wurde abgestellt. Abgeschmettert. Und wenn diese Nacht ewig dauerte, er konnte nicht mehr anrufen. Sie sah auf ihrem Handy, wer sie angerufen hatte. Rief sie in dieser Nacht, von jetzt bis, sagen wir, zehn Uhr vormittags nicht zurück, dann …
Ihm war nach Bewegung, aber wenn er jetzt hin- und herrennen würde, käme Helen herauf, Vorwand: Ich mach mir Sorgen. Jetzt auf den Wank, das wär’s. Langsam fahren. Hinaus und hinaus. Dich aus der Stadt schälen wie aus einem Alptraumgewand. Aufsteigen. Drunten noch Nacht, droben schon Licht. Vom Mühldörfl aus über den Hüttlsteig und den Jägersteig hinauf. Sein Aufwärtserlebnis. Bergauf beschleunigen. Gelbe Fingerhüte links und rechts, Königskerzen, Bergbach, Glockenblumen, Tollkirschen, für das meiste hat er keinen Namen, braucht er keinen Namen, alles, was blüht und rauscht, blüht und rauscht für ihn, weil er der ist, der immer hierherkommt, der, auch wenn das vielleicht nicht der Fall ist, das Gefühl hat, er beschleunige seinen Schritt andauernd. Dieses Gefühl, schneller zu werden, leichter zu werden, braucht er. Das ist seine Aufwärts-Illusion. Der Gipfelstürmer-Wahn. Mehr Kräfte haben, als er hat. Das ist doch sein Prinzip. Er muß sich übertreffen. Das ist sein Genuß. Und der Atem macht mit. Das Herz macht mit. Wenn er einmal stehenbleibt, dann nicht, um zu rasten, sondern weil er aus bergreligiösen Gründen sich umdrehen muß, um der Alpspitze fromme Reverenz zu erweisen. Wenn er zwischen den Latschen angekommen ist, ist er daheim. In diese Höhe gehört er. Jetzt rennt er wirklich. Glaubt, er renne. Renne hinüber zum Gipfel. Dem nähert er sich dann aber langsam. Schnauft schwer. Eigentlich japst er jetzt nach Luft. Sein Dr. Bartenschlager hat gesagt, Karl von Kahn werde sicher die begehrteste aller Todesarten erfahren: den Wachtmeistertod. Man steht, denkt an nichts, fällt um, ist tot. Bei ihm heißt das: gesund sterben. Wo, wenn nicht am Wankgipfel möchte er … Aber jetzt nicht. Nicht mehr. Erfüllt vom Erstiegenen abwärts dann, sanft, mit der Bahn, die Gondel eine Wiege des Wohlgefühls. Langsam zurückfahren in die Stadt, unverwundbar geworden. Durchblutet von der Bergreligion. Irgendwann Joni anrufen. So unbeschwert, als stochertest du mit den Zehen im karibischen Strandsand. Nicht den Hauch eines Vorwurfs.
Er hat sein ganzes Leben lang nicht richtig gelogen. Immer nur so ein bißchen an der Wahrheit herumgepfuscht. Jetzt bleibt nur die herzhafte Totallüge. Also. Guten Morgen, Joni, er hofft, sie habe so tief und traumschön geschlafen wie er. Den Traum, den dich selig umkreisenden und dann sogar noch mitten hinein treffenden, erzählt er dir beim nächsten Wiedersehen. Da oder dort oder sonstwo. Er ist eben ein Freizeitbaron. Er weiß nicht, ob das in ihrem bisherigen Zusammensein genügend deutlich geworden ist. Er muß nichts Bestimmtes arbeiten, um mehr Geld zu haben, als er braucht. Er tut nicht nichts. Dann und wann steigt er sogar ungeheuer ein. Aber nur, um das Gefühl zu genießen, er sei ein bedeutender Mann. Dann wieder Monate oder Jahre herumsitzen oder — fahren und guter Laune sein. Strände sind sein Hauptmilieu. An Stränden schreibt er. Er hat immer gern geschrieben. Aber nur an Stränden. Auch seine Frau schreibt gern. Sie, Lyrik. Er, Prosa. Essayistisch. Sie lebt am liebsten in Rom. Er in Paris. Zusammen sind sie am liebsten in München. Ein Paar, das Zwang verabscheut. Er darf sich zum Glück frei fühlen. Vielleicht ist er überhaupt der freieste Mensch auf der Erde …
So wird er ihr begegnen. Vorwurfsfrei. Er weiß doch schon ziemlich genau, wie Joni ihn will. Wenn sie ihn überhaupt will. Immerhin hat sie nachher im Bett geweint. Die Tränen getrocknet mit diesem Nichts von Schlüpfer.
In dieser Nacht lernt er, was er schon längst hätte lernen müssen: die reine Lüge. Die Lüge unter allen Umständen. Die allein hilfreiche Lüge. Schluß mit dem mühseligen, nie ganz gelingenden Vertuschen der Wahrheit. Schluß mit dem Jammer der Halbwahrheiten.
Irrsinn. Ein Feldherr ertüftelt die ultimative Strategie auf dem Schlachtfeld, auf dem er gerade den Krieg ein für allemal verloren hat. Du wirst keine Gelegenheit haben, als der große Lügentenor aufzutreten. Sie schmust nämlich gerade jetzt mit wem auch immer in der Bar. Sie schmusen und lecken sich vorwärts, bis sie aufstehen und eher schwebend als gehend ihr Zimmer erreichen.
Was dann abgeht, weiß er.
Wenn Helen auf dem seitlich vom Haus gelegenen Vorplatz die Blätter zusammengekehrt hat, kehrt sie am Schluß alles, was sie gehäuft hat, auf eine große breite Schaufel, die sie dann in die Tonne für natürlichen Abfall leert. So etwas brauchte er jetzt. Bloß müßte die Tonne, in die er seinen Kehricht leert, eine Tonne für Psychoschrott sein. Entsorgen. Und zwar sofort. Er hat Glück gehabt: das hat er jetzt geschnallt. Deine Liebe, die kannst du dir an die Glatze nageln. Die geht ihr am Arsch vorbei. Das ist echt ätzend. Durchgeknallt, das war einmal. Entsorgen ist auch nicht schlecht. Umweltschonend. Du mußt nicht so weit gehen, dir stundenlang vorzustellen, was sie jetzt gerade tut und sagt. Das ist kontraproduktiv. Du mußt eine riesige Decke über alles werfen. Eine tannengrüne Decke. Überhaupt Tannengrün über alles. Tannenzweige. So wie die Gräber im Winter, daß sie nicht frieren, mit Reisig zugedeckt werden. So die ganze Welt. Bis zu jedem Horizont. Und hingeschaut über diese dunkelgrüne, angenehm unglatte Unendlichkeit, hingeschaut, bis nichts Denkbares mehr bleibt. Du hast Glück gehabt. Das hätte furchtbar werden können. Alleinsein, das ist gelernt. Du brauchst keinen mehr und keine mehr. Nichts erlebst du, sobald du zwischen den Latschen bist, deutlicher als diese Fähigkeit, allein zu sein. Das fühlt sich an wie Glück. Ein Glück, das du, solange du noch andere brauchtest, nie empfunden hast. Auch der feinste Kontakt verlangte, um zu gelingen, einen Verzicht auf etwas, und genau dieser Verzicht hat den Kontakt wertlos gemacht. Die WG mit Helen ist die beste aller denkbaren Zweckgemeinschaften. Ist es eine Anmaßung, dich allein zu fühlen? Du weißt nicht, willst nicht wissen, wer außer dir noch allein ist. Du willst keinem dreinreden, etwa sagen, jeder sei allein. Dann hättest du ja wieder reichlich Gesellschaft. Über das Alleinsein kann jeder nur für sich sprechen.
Er holte aus der Schublade Ereweins Papiere, Bericht und Brief. Er suchte die Stelle, die er jetzt ganz wörtlich wissen wollte. Und fand die Stelle: Ich bin dran jetzt. Mir ist auf dem Kopfe das letzte Moos gewachsen. Mein Atem erreicht meine Lippen kaum noch. Stille, Leere, Ausgeräumtheit. Mit diesen Sätzen verband ihn, daß sie nicht gesagt, sondern geschrieben worden waren.
Er zwang sich zurück zum weltbedeckenden Reisig. Nichts als das. Aber daß er sich hatte durchgehen lassen, er werde jetzt endlich rückhaltlos lügen, ging ihm nach. Er hätte sich doch längst trennen müssen von dieser Moral-Linguistik, von dieser Bestrafungs-Philologie. Religionsfeudalismus ist das. Wenn er nicht mit sich übereinstimmte, war, was er sagte, nicht das, was er dachte. Und mußte doch gesagt werden. Wollte gesagt werden. Alles, was du sagst, ist wahr. Und zwar dadurch, daß du es sagst.
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