— Du etwa nicht? fragt der Bub.
Sie sehen einander betroffen an.
— Weiß nicht.
— Eine passende Gesichtsfarbe, wenn sie dich aufhängen, mußt du dir nicht mehr einfallen lassen.
Peter hat Bilder seiner Mutter vor Augen, ihr vom Krebs entstelltes Gesicht, dem das Abschiednehmen, als alle bis auf Peter sich zu Verwandten nach Vorarlberg auf den Weg machten, eine zusätzliche Härte gab: leichenfahl, die Züge wie für das Kasperltheater geschnitzt, knochig, die Lippen dünn, gelblich blasse Haut und große gelbliche, ganz verhuschte Augen, die — je nach Licht — irgendwie bedrohlich aussahen. Peter fragt sich, ob seine Mutter in diesem Moment noch lebt. Seit der Trennung ist er ohne Nachricht, und zum Sterben, fährt es ihm durch den Kopf, sind acht Tage genug. Vor drei Tagen hat er den Versuch unternommen, seinen Vater telefonisch zu erreichen, und nachdem er zwei Stunden am Postamt auf eine Verbindung gewartet hatte, meldete das Fräulein vom Amt mit Ingenieur Erlach, Feldkirch, ja hier, und er gleichfalls mit Erlach, Wien, Vater? Darauf wurde die Verbindung unterbrochen. Eine Wiederherstellung gelang nicht, das kostete nur, und als er es am Nachmittag nochmals versuchte, wurden keine Gespräche mehr angenommen.
— Wir haben keine Befehle. Wenn uns niemand Befehle gibt, haben wir keine Befehle, sagt Peter.
Die Buben biegen in die Eisernenhandgasse Richtung Kahlenbergerdorf, wo Peter einen Onkel hat, einen Bruder seines Vaters. Zwischen den Weinrieden gehen sie abwärts bei offener Sicht auf den Kuchelauer Hafen, die grünbraun sich streckende Donau und die nördlichen Stadtbezirke auf der anderen Seite des Flusses. Noch in beträchtlicher Entfernung hören sie Gelächtersalven, kurz darauf wird gesungen, Wo Tirol an Salzburg grenzt , zweistimmig, wobei sich diejenigen, die die zweite Stimme beisteuern, in Sachen Lautstärke wie üblich besonders hervortun. Die Buben erreichen den Ort. Sie überqueren den Sankt-Georg-Platz, passieren eine alte Weinpresse, wie Heurigenorte sie sich schuldig sind, die Eisenteile zur Hälfte zerfressen. Von dort aus sieht Peter das weiter unten liegende, zweistöckige Haus, dessen Kellerwohnung Onkel Johann mit seiner Familie bewohnt. Heller Rauch steigt auf, von einigen durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen in der Höhe des Dachfirstes beschienen.
Im Vorgarten des Hauses wird ein Haufen Papier verbrannt. Onkel Johann fährt mit dem Laubrechen zwischen die glimmenden Bücher, Bilder und Dokumente, er steht mit dem Rücken zur Straße. Ein Stück weiter hinten, auf der Vortreppe, spielt Peters sechsjährige Cousine Trude Bügeln mit einem Stein und einem dem Feuer bislang entgangenen Blatt Papier. Auch das Mädchen ist ganz von seiner Beschäftigung in Anspruch genommen, so daß es von den erschöpften Buben, die schmutzig wie Rauchfangkehrer und in den Schlaglöchern stolpernd die geschlungene Gasse herunterkommen, erst Notiz nimmt, als die beiden am Gartenzaun stehenbleiben und grüßen.
— Heil Hitler, Onkel Johann! Servus, Trude!
Im rasenden Kriegstempo fährt hinter ihnen ein in Tarnfarben gehaltener Spähwagen der Wehrmacht hinunter zur Donau. Trude schaut auf, starrt mit einem verstockten Blick auf Peter, dann auf ihren Vater. Erst als ihr Vater sich vom Feuer zur Straße wendet, steht auch Trude von der Vortreppe auf, kommt zunächst aber nicht zum Zaun, sondern bückt sich nach einem Stück Papier, das durch die aufsteigende Hitze von der Feuerstelle weggetragen worden ist. Sie zerknüllt es und wirft es zurück auf den glimmenden Stapel. Das Knäuel verfärbt sich, plustert sich auf, doch Flammen schlagen nicht heraus.
— Dann hast du dein Plansoll erfüllt? fragt Onkel Johann mit Blick auf Peters bandagierten Oberarm.
Peter folgt dem Blick des Onkels, der Verband ist rötlichbraun von Salbe, Zinkleim und Blut, das nicht aufhören will aus der Wunde zu sickern, obwohl die Sanitäter er weiß nicht was in den Schußkanal gestopft haben, vermutlich Watte. Es läuft Peter kalt über den Rücken. Mit der gesunden Hand streicht er über den Ellbogen, als könne er den Schmerz durch die besänftigende Berührung gefügiger machen.
— Durchschuß, meldet er.
— Und der Knochen?
— Soweit man vom Schußkanal darauf schließen kann, gestreift.
— Tut es sehr weh? fragt Trude, die mittlerweile ebenfalls zum Zaun gekommen ist.
— Ja, schon, sagt Peter.
— Bekommst du eine Auszeichnung? fragt Trude.
Doch diesmal läßt Onkel Johann seinen Neffen nicht zum Antworten kommen. Er gibt Trude einen Stoß mit der Hand:
— Geh nach drinnen zur Mutti und sag ihr, sie soll für die beiden eine Wegzehrung einpacken. Aber hurtig, marsch!
Trude zögert einen Moment. Der Hitlerjunge in Peters Begleitung stemmt die Ratsche gegen das rechte Knie und dreht einmal die Kurbel, da ist Trude schon weg.
Onkel Johann fixiert den Buben, verärgert über den Lärm.
Peter sagt:
— Ich hab gehofft, wir können bleiben.
Der Onkel geht zurück zu den Unterlagen, die nicht recht brennen wollen. Er hebt einen Teil des halbverkohlten Papiers an, lockert den Packen und legt ihn sacht auf die Seite, damit Luft hineinfahren kann. Einige hauchdünn ausgeglühte Bruchstücke steigen wie Drachen hoch, gleiten schwebend, unwägbar, am Rand eines Luftwirbels zur Seite und sinken als saurer Dünger, den der nächste Regen ins Erdreich spülen wird, zu Boden.
Onkel Johann wendet sich wieder zum Zaun:
— Als Neffe wärst du willkommen, aber nicht als Soldat. Wo doch die Russen. Du mußt verstehen. Die Familie. Da ist es besser, wir sind ab jetzt neutral.
Peter fühlt sich, als wäre er gerade aufgewacht und sofort windelweich geprügelt worden. Er möchte seine Mutter erwähnen, den Fähnleinführer, er möchte nach seinem Karabiner greifen und abermals bitten. Aber Idiot, der er ist, hat er den Karabiner am Verbandsplatz liegenlassen inmitten all des dortigen Schmerzgeschreis und Kommandogebrülls.
— Onkel Johann, wenn du willst, können wir die Uniformen und das ganze Zeug wegwerfen.
Der Onkel fährt neuerlich mit dem Laubrechen in den Haufen, mit einem gewissen Ingrimm, der dem Feuer bekommt.
— Mit deiner Verletzung würde ich dich notfalls auf die andere Straßenseite tragen. Peter, so leid es mir tut. Es ist wegen der Russen. Damit kein Eindruck entsteht. Wie gesagt, wir sind ab jetzt neutral.
Neutral, denkt Peter, was soll das bloß heißen?
Und im selben Moment begreift er (und das trägt zu seinem Gefühl der Erschöpfung wesentlich mit bei), daß alles kopfsteht, daß alles Gewohnte und Gehabte und was man ihm beigebracht hat von diesem Augenblick an nicht mehr zählt. Er fühlt den langsam erkaltenden Schweiß an seinem Körper, und während er den Aschegeruch des verglimmenden Papiers in der Nase hat, ist ihm, als würden ihn mit einmal alle seine Kräfte verlassen. Noch nie in seinem Leben hat Peter sich so hundsmiserabel gefühlt, er spürt jeden Knochen im Leib, sein Blut pumpt in groben Stößen, läutet ihm in den Ohren. Sein Oberarm schmerzt jetzt, daß es kaum auszuhalten ist. Er möchte sich hinsetzen, er möchte nicht weitergehen, so zum Umfallen müde ist er, so sehr drückt ihn das Gewicht so vieler Dinge: der nutzlosen Toten, der Trauer, daß ihn das Leben, das ihm sein Vater vorgemacht hat, zum Idioten stempelt, sein leerer Magen, der sich, seit Onkel Johann Trude um Essen geschickt hat, immer wieder zusammenkrampft, in rasch kürzer werdenden Abständen. Peter hat Angst, sich übergeben zu müssen.
— Wer singt da unten? fragt er, ganz als rede er ins Leere hinein, mit starrem, abwesendem Blick. Wenn nicht der weiter sich verstärkende Beschuß alles und jedes übertönt, hört man ein weiteres Volkslied, das ins Rumoren des Krieges hineingegrölt wird: Hoch vom Dachstein an .
— Da werden einem die Augen naß, sagt der andere Bub.
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