— Gleich hab ich dich!
Und wieder dieses helle, fröhliche Lachen, unter das sich das Schlagen von Almas Sandalen mischt, sehr hart, als würde Alma lediglich vortäuschen zu laufen. Richards obenliegendes Ohr vernimmt das Klacken einer Wegplatte. Er hört in die verschiedenen Geräusche hinein, holt sie zu sich heran, ehe er sie wieder mit dem Hintergrund verschmelzen läßt: Das Reiben und Knarzen der Schaukelketten an den Gummischalen, die Richard aus einem kaputten Wagenreifen hat sägen lassen zum Schutz des Astes, an dem die Schaukel hängt, dann erneut Ingrids trippelnde Schritte, ihr langes, dünnes und gellendes Stimmchen, von dem Richard sich, wie widersinnig es klingen mag, seltsam behütet fühlt. Schon lange ist er nicht mehr so gelegen, alles kommt ihm friedlich vor, so frei von Sorgen. Ein Gefühl der Zufriedenheit erfaßt ihn, und einen Augenblick lang hat er die sichere Empfindung, nicht nur Teil dieser Geräuschkulisse zu sein, sondern ihr Mittelpunkt, Brennpunkt eines familiären Kraftfeldes, der Unterbau, der dem Überbau zuhört. Dr. Richard Sterk: Jede familiäre Regung ein Attribut seiner großmächtigen Person. So hat er es sich vorgestellt, bevor er verheiratet war — und natürlich weiß er (was er offen nicht zugeben kann), daß hier der wahnhafte Teil seines Wünschens beginnt.
Seufzend dreht er sich auf den Rücken und hebt den Oberkörper, gleichzeitig öffnet er die Augen zu schmalen Schlitzen. Sein Blick gleitet langsam über den Rasen zwischen den Bäumen hindurch zur Veranda. Bei einem halbwüchsigen Apfelbaum, der noch von seinem Vater stammt, sieht er seine Tochter im Kreis um den Stamm laufen. Irgendwer hat ihr ein riesiges Rhabarberblatt um den Kopf gebunden. Die Schritte, die sie macht, sind ungleich, sie schwankt auf ihren kleinen nackten Füßen und mit dem dicken Windelpopo, als wäre sie eine Barkasse, die zu schwer geladen hat. Dahinter läuft Alma mit der Gießkanne. Immer wieder läßt Alma sacht einige Spritzer Wasser aus der Gießschnauze auf Ingrids Schultern und Rücken schwappen, auch noch, als Ingrid Richtung Vorplatz schwenkt. Beide leisten sich eine strahlende Miene. Richard schaut ihnen hinterher, bis sie über der Auffahrt verschwinden, wo der Garten von Richards Platz aus nicht einzusehen ist. Lediglich Ingrids fröhliches Kreischen wird von der warmen Luft noch herübergetragen.
— Stimmt es, erkundigt Otto sich von der Schaukel, daß man um den Ast herumschaukeln kann, wenn man schnell genug schaukelt?
— Wer behauptet das? fragt Richard.
— Frieda.
— Es ist Unsinn, du würdest dir den Schädel an den Ästen darüber anhauen.
— Und wenn man die Äste darüber wegschneiden würde?
— Dann würden wir im Herbst keinen Most bekommen.
— Und stimmt es, daß wir jetzt, wo wir Deutsche sind, niemanden mehr zu fürchten brauchen?
— Von wem stammt das? Doch bestimmt nicht von Frieda? Sie fürchtet sich ja vor jedem Soldaten.
— Fredl, der Sohn von Frau Puwein, sagt es.
— Na, in gewisser Weise hat er sogar recht, da wir bisher nur die Deutschen gefürchtet haben und das jetzt wegfällt, weil wir ja selber Deutsche geworden sind.
— Mir gefällt es, daß wir Deutsche sind. Am besten hat mir gefallen, als die Flugzeuge die Hakenkreuze aus Aluminiumfolie abgeworfen haben.
Am Morgen des 12. März bei niedrigstehender Sonne, wie ein riesiger Schwarm gleißender Fische sah es aus.
Otto lehnt sich mit ausgestreckten Beinen weit zurück, holt Schwung, dann springt er am höchsten Punkt seiner Schaukelbahn ab, breitet die Arme aus und imitiert ein Flugzeug. Die Schaukelkette klirrt, als das Brett zurücksaust. Nach einer Drehung um 180 Grad landet Otto mit einem Plumps auf allen vieren, eine der ganz gewöhnlichen Komponenten eines sonnigen Sommernachmittags im Garten, etwas, das Richard gar nicht auffallen würde, wenn er tagsüber öfter daheim wäre.
Er ruft Otto hinterher:
— Wo ist Frieda?
Otto hält im Laufen inne und dreht sich zurück:
— Sie sitzt in der Veranda und schreibt einen Brief.
— Bitte sie, mir ein Bier aus dem Keller zu bringen.
Sowie er es gesagt hat, gewahrt er, daß Frieda in der Veranda vom Tisch aufsteht und einen kurzen Blick zu ihm herauswirft. Die Tür und mehrere Fenster klaffen weit auf, damit im Haus für Durchzug gesorgt ist.
— Otto, es hat sich erledigt! ruft er.
Aber der Junge hört es nicht mehr, da er bereits die vier Stufen zur Veranda hochtrampelt. Auch egal. Richard streckt sich der Länge nach aus. Die Hände unter dem Kopf verschränkt, starrt er in das Geäst über sich, in dem Teile des hart gespannten Himmels zu sehen sind und Krähen darin, die schräg durch den Nachmittag ziehen. Während sich der Garten einen Moment lang in fetter und üppiger Ruhe wiegt, brütet Richard darüber, was das Familienleben eigentlich ist, was so ein Familienleben ausmacht. Und vor allem, warum praktische Ehewissenschaften einen nicht besser darauf vorbereiten, vom technischen Standpunkt aus, da man doch ganze Tage mit Familienleben zubringt. Ganze Wochenenden. Es ist ihm unerfindlich. Mißmutig zieht er die Handflächen über die rauhen Armstützen des Liegestuhls. Als von hinter dem Haus Alma mit der weinenden Ingrid am Arm kommt, verstellt er die Lehne um mehrere Kerben nach vorn, so daß er jetzt beinahe sitzt.
— Du wirst sehen, bis zur Hochzeit ist es wieder gut, sagt Alma zu Ingrid. Und zu Richard:
— Sie ist über eine der Weinkisten gefallen, in denen Otto seine Heupferdchen hält.
Sie stellt die Gießkanne zurück zum Brunnen und fährt dem weinenden Kind mit der frei gewordenen Hand über die Wange. In dem Moment tritt Frieda aus der Verandatür, ein Bier in der Hand, über das ein Glas gestülpt ist. Nachdem sie Richard das Bier gereicht hat, hilft sie Alma mit Ingrid, die vor Anstrengung rot angelaufen ist, deren Weinen jetzt aber nachläßt.
— Bis zur Hochzeit ist es wieder gut, verspricht Alma nochmals.
Ingrid versteckt sich im Kittel von Frieda. Frieda ist mittlerweile in die Knie gegangen und murmelt etwas Unverständliches in ihrem Weinviertler Dialekt. Sie klemmt Ingrid zwischen ihre Schenkel, und Ingrid läßt sich mit zwei Handvoll Wasser, die Frieda aus der Gießkanne nimmt, folgsam den Rotz aus dem Gesicht waschen. Frieda trocknet das Gesicht des Mädchens mit dem Ende ihres Kleides ab, und da der Stoff nicht für alles gleichzeitig herhalten kann, bietet sich Richard der Anblick eines nackten Schenkels. Abermals gehen Richard Bilder durch den Kopf, die zarte Haut an den Innenseiten, diese sanft hügelige Landschaft aus Muskeln und Fett, und das rötliche Haar, das sich in einer schmalen Linie bis unmittelbar zu Friedas After zieht. Er hat alles genau vor Augen. Doch die Folge ist keineswegs ein wollüstiges Gefühl, und wenn doch, ist dieses wollüstige Gefühl, Teil des Traurigen an seiner Lage, das ihm in die Kehle steigt. Indem er noch zu Frieda hinüberschaut, läßt er mechanisch den Patentverschluß seines Biers aufschnappen, er bemerkt nicht, daß Ingrid, über Friedas Schenkel hinweg, zurückschaut.
— Bumm! sagt sie.
— Bumm! sagt auch Richard. Das kann einen wirklich in den Irrsinn treiben, stöhnt er bei sich. Er beäugt das Kind, dessen Wangen unter den Augen noch ein wenig glänzen, dort, wo sich die Tränen auf dem faltenlosen Gesicht flächig ausgebreitet haben. Die Tatsache, daß so eine kleine, zu nichts zu gebrauchende Kreatur seine Tochter sein soll, verwundert ihn jeden Tag mehr.
— Gut geschlafen? fragt Alma.
Im ersten Moment, als ihm seine Dienstreise in den Sinn kommt, ist er drauf und dran zu behaupten, daß er sich das Nickerchen redlich verdient habe. Doch rechtzeitig erinnert er sich, daß die Tage mit den Kollegen von der NEWAG für sein nachmittägliches Schlafbedürfnis nur teilweise verantwortlich sind.
Читать дальше