Er legte das Heft zurück auf seinen Platz und machte Joe Williams nie wieder einen Vorhalt.
Statt dessen sperrte er sich nun jeden Freitagnachmittag für eine halbe Stunde in seinem Arbeitszimmer ein, breitete Zeitungspapier über seinen Schreibtisch und machte sich mit Lappen und Putzmittel daran, den Silberkelch für den Sabbatwein rechtzeitig vor dem abendlichen Gottesdienst zu polieren. Und manchmal, während er verbissen sein Silber polierte und dabei das graue Putzmittel unter die Nägel bekam, hörte er aus dem Keller einen Schlag oder gelegentlich auch einen Fluch, die bewiesen, daß der schamess Joe Williams noch am Leben war.
Leslie schrieb für jede Nummer der News eine Story, leichte, humoristische Beiträge oder etwas Historisches mit allgemeinmenschlichen Aspekten. Sie erhielt dafür je sieben Dollar fünfzig Cents und sah ihren Namen gedruckt, was ihr Mann mit einem gewissen Respekt betrachtete.
Mit der Zeit wurde ihr Leben alltäglich, und sie waren es zufrieden. Die gewohnte Routine war so vorhersagbar geworden wie das Fallen der Blechenten in einer Schießbude, und beiden schien es, als wären sie schon immer miteinander verheiratet gewesen. Sie begann einen voluminösen Pullover für ihn zu stricken, ein Geschenk zu ihrem ersten Hochzeitstag, das er bald in einem leeren Schrank versteckt entdeckte und von Stund an geflissentlich übersah.
Mit dem Wechsel der Jahreszeit wechselten auch die Blätter die Farbe, aber sie brachten es nicht zu der leuchtenden Buntheit der Bäume am Hudson oder am Charles, nur zu einem zerknitterten Braun oder einem bleichsüchtigen Gelb. Dann kamen, an Stelle des Schnees ihres letzten Winters, die Regen - ungewohnte Regen für Michael und Leslie.
Eines Abends setzte der Regen sturzflutartig ein, als Leslie auf ihrem Weg in die Redaktion eben am Denkmal des Generals vorbeiging. Sie begann zu laufen und erreichte tropfnaß und atemlos das Zeitungsgebäude. In dem kleinen Redaktionszimmer war nur mehr Dave Schoenfeld anwesend, im Begriff, die Lichter abzudrehen und, wie seine Angestellten, nach Hause zu gehen. »Haben Sie nicht schwimmen gelernt?« sagte er grinsend.
Sie saß auf einem Schreibtisch, hielt den Kopf zur Seite geneigt und wand das Wasser aus ihren Haaren. »Der gesamte Atlantik ist soeben in fünfcentgroßen Stücken aus dem Himmel heruntergekommen«, sagte sie.
»Gute Nachricht«, erwiderte er. »Leider nach Redaktionsschluß. Wir werden uns das für Donnerstag aufheben müssen.«
Sie schlüpfte aus ihrem durchnäßten Mantel und rettete das Manuskript aus der Tasche. Ein paar Seiten waren naß geworden.
Sie strich sie auf einem Aktenschrank glatt und begann den Durchschlag einzurichten. Die Geschichte handelte von einem Mann, der dreißig Jahre lang als Bremser auf der Atlantic Coast Line gefahren war. Nach seiner Pensionierung, so hatte er ihr anvertraut, war er drei Monate lang betrunken gewesen und hatte unter der Obhut von treuen ehemaligen Kollegen in einem ausrangierten Küchenwagen auf einem Abstellgleis außerhalb von Macon gehaust.
»Aber das schreiben Sie bitte nicht«, hatte er sehr würdevoll erklärt,
»schreiben Sie einfach, daß ich drei Monate lang mit meinem Eisenbahnerausweis in der Weltgeschichte herumgefahren bin.« Und Leslie hatte es ihm versprochen, obwohl sie das dunkle Gefühl hatte, damit gegen die journalistischen Berufsnormen zu verstoßen.
Wieder nüchtern geworden, hatte der alte Mann aus purer Langeweile zu einem Stück Föhrenholz und einem Taschenmesser gegriffen und zu schnitzen begonnen. jetzt verkauften sich seine amerikanischen Adler schneller, als er sie produzieren konnte, und mit seinen achtundsiebzig Jahren war er immer noch in der Lage, etwas auf die Bank zu tragen.
Es war eine gute Story, und sie dachte ernsthaft daran, sie an Associated Press oder an North American Newspaper Alliance zu verkaufen und Michael mit dem Scheck zu überraschen. Sie korrigierte sehr sorgfältig und stöhnte leise, als der Bleistift das Durchschlagpapier an einer feuchten Stelle durchstieß.
Dave Schoenfeld trat herzu und blickte ihr einige Minuten lang mitlesend über die Schulter. »Das ist ja eine recht ordentliche Sache«, sagte er, und sie nickte.
»Unser Rabbiner ist jetzt abends oft außer Haus, nicht wahr?«
Sie nickte, immer noch lesend.
»Ein bißchen einsam, was?«
Sie hob die Schultern. »Habe ich mehr Zeit, solche Sachen zu schreiben.«
»Irn vorletzten Absatz ist ein Tippfehler«, sagte er. »Meißel, nicht Meißle.«
Sie nickte wieder und besserte es aus. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, daß sie seine Hand erst nach einer Weile spürte. Aber da hatte er sich schon über sie gebeugt und verschloß ihr den Mund mit dem seinen. Sie stand völlig erstarrt, die Lippen aufeinandergepreßt, in den Händen noch immer den Bleistift und eine Manuskriptseite, bis er zurücktrat. »Nur keine Angst«, sagte er.
Sie suchte sorgfältig ihr Manuskript zusammen und ging zum Anzeigenschalter, wo ihr nasser Mantel lag. Nachdem sie ihn angezogen hatte, steckte sie die Story in die Tasche.
»Wann können wir uns treffen?« fragte er. Sie sah durch ihn hindurch.
»Du wirst dir's schon noch überlegen. Ich kann dir Sachen beibringen, an die du denken wirst.«
Sie wandte sich um und ging zur Tür.
»Von mir wird niemand was erfahren«, sagte er. »Aber deinen kleinen jüdischen Pfaffen, den kann ich fertigmachen auf eine Art, von der du dir nichts träumen läßt.«
Draußen ging sie sehr langsam durch den Regen. Sie glaubte nicht zu weinen, aber ihr Gesicht war plötzlich so naß, daß sie dessen nicht sicher war. Hätte sie die Story doch in der Redaktion gelassen!
Nun würde der arme Alte mit dem Taschenmesser und dem Schnitzholz vergeblich auf seinen Namen und sein Bild in der Zeitung warten.
Ihr Hochzeitstag fiel auf einen Sonntag, und sie mußten früh aufstehen, weil Michael um neun Uhr Unterricht im Tempel hatte.
So beschenkten sie einander beim Frühstück; er zog den neuen Pullover an, und sie war sehr glücklich mit den zur Gemmenbrosche passenden Ohrgehängen, die er schon vor Monaten für sie gekauft hatte.
Nach dem Mittagessen nahm Michael einen Rechen und begann die Beete im Vorgarten zu harken, wobei er kübelweise die welken Blätter entfernte. Ein Beet war schon gesäubert, das andere zur Hälfte, als die Autoprozession begann. Da er diesmal einen günstigen Platz und genügend Zeit hatte, ließ er die Blätter Blätter sein, lehnte sich auf den Rechen und sah zu. Meist saßen die Kranken im Fond.
Viele von ihnen hatten Krücken. Manche Wagen führten auf dem Verdeck oder im Kofferraum Rollstühle mit. Ab und zu kam auch ein gemieteter Krankenwagen vorüber.
Schließlich hielt er es nicht länger aus. Er ließ sein Werkzeug fallen und ging ins Haus. »Jetzt möchte ich einen Fernseher haben«, sagte er zu Leslie. »Nur um zu sehen, was an dem Kerl dran ist, daß er Sonntag für Sonntag solch einen Zulauf hat.«
»Es ist ja nur ein paar Kilometer«, sagte sie. »Warum fährst du nicht hinaus und schaust ihn dir an?«
»An unserem ersten Hochzeitstag?«
»So fahr doch«, sagte sie, »mehr als zwei Stunden wird es ja nicht dauern.«
»Ich tu's wirklich«, sagte er.
Er wußte zwar nicht, wo das Gebetsmeeting stattfand, aber es war leicht zu finden. Er wartete die erste Verkehrslücke ab und reihte sich mit seinem Wagen ein. Der Kurs führte über die kurvenreiche Straße, überquerte den Hauptplatz und führte zur anderen Stadtseite, durch das Negerviertel mit seinen baufälligen Häusern und abblätternden Hütten und hinauf auf die Autobahn. Dort traf er auf eine andere Autokolonne, die aus der Gegenrichtung herankam. In ihr bemerkte Michael nicht nur Georgia-Kennzeichen, sondern auch solche aus South und North Carolina. Schon lange bevor das geräumige Zelt in Sicht kam, bogen die Wagen von der Straße ab und holperten über die Äcker, eingewiesen von halbwüchsigen Negern oder weißen Farmerjungen mit Strohhüten, die neben ihren selbstgemachten Hinweistafeln standen und eine um so höhere Parkgebühr einhoben., je näher man dem Zelt kam: PARKING C 50.
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