»Sie sehen etwas bleich aus«, sagte Leslie.
Bobbys Mutter hatte den Fisch in Ei und Paniermehl getaucht und ihn dann in Pflanzenfett gebraten. Hier gab es weder Eier noch Pflanzenfett, aber Michael fand Paniermehl und eine Flasche Olivenöl. Er hatte seine Zweifel wegen der Veränderungen am Rezept, aber der fertige Fisch sah aus wie direkt aus Ladies Home Journal. Leslie sah und hörte ihm aufmerksam zu, als er die brache sagte. Die Bohnen waren gut, und der Fisch war zart und köstlich, und Michael fand selbst die sonst verabscheuten Zucchini schmackhaft, die Leslie aus eigenem Antrieb geöffnet und gewärmt hatte. Zum Dessert öffneten sie eine Dose Pfirsiche und tranken den Saft.
»Wissen Sie, was ich jetzt gern täte?« »Nun?«
»Ihr Haar schneiden.«
»Und was sonst noch?«
»Nein, wirklich. Es wäre so dringend nötig. So wie Ihre Haare jetzt aussehen, könnte jemand, der Sie nicht kennt, glauben, Sie sind... na, Sie wissen schon.«
»Ich weiß gar nichts.«
»Schwul.«
»Sie kennen mich doch auch nicht - fast nicht. Woher wissen Sie, daß ich nicht schwul bin?«
»Ich weiß es eben«, sagte sie und neckte ihn weiter mit seinen langen Haaren, bis er nachgab und einen von Stan Goodsteins Ahornstühlen hinaus vor die Hütte trug. Es war warm in der Sonne, er zog sein Hemd aus, und sie holte die Schere und begann an seiner Frisur herumzuschnipseln. Plötzlich schnupperte er und fragte ärgerlich:
»Um Himmels willen, haben Sie die Schere nicht abgewaschen? Die ist doch voll Fisch.«
Er wollte die Sache sofort aufgeben, aber sie ging schon zum Brunnen und spülte die Schere ab und trocknete sie an ihrem straffgespannten Hosenboden, und er dachte: Noch nie im Leben war ich so fröhlich wie heute.
Er lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück und schloß die Augen und genoß die Wärme und hörte dem Geklapper der rostigen Schere zu.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte das Mädchen.
»Wofür?«
»Ich habe auf Ihren Kuß reagiert - sehr intensiv sogar.«
»Ist das so außergewöhnlich?«
»Für mich ist's außergewöhnlich - seit dem letzten Sommer. Ich hatte da so eine Affäre ...«
»Nicht! « Er beugte sich vor, so daß sie mit dem Haarschneiden aufhören mußte. »Sie werden mir doch nicht im Ernst solche Geschichten erzählen wollen.«
Sie faßte nach seinen Haaren und zog seinen Kopf nach hinten.
»Doch, ich will. Ich habe mit niemandem darüber sprechen können -
jetzt kann ich. Hier ist es ungefährlich - es hätte sich gar nicht besser treffen können. Sie sind Rabbiner und ich bin ... eine schiks se, und wir werden einander wahrscheinlich nie wiedersehen. Das ist noch besser als eine Beichte bei den Katholiken - ich muß nicht zu einem unbekannten Pfarrer reden, der hinter dem Beichtstuhlgitter versteckt ist, ich kenne den Menschen, zu dem ich spreche.« Er ergab sich und hielt still, während die Schere klapperte und die abgeschnittenen Haare auf seine nackten Schultern fielen.
»Es war ein Student aus Harvard, den ich nicht einmal gern hatte. Er heißt Roger Phillipson, seine Mutter ist eine Schulkollegin meiner Tante, und wir gingen ein paarmal zusammen aus, nur um darüber nach Hause schreiben zu können und ihnen eine Freude zu machen.
Und dann habe ich mit ihm geschlafen, in seinem Auto, nur ein einziges Mal. Ich wollte einfach wissen, wie es ist. Es war scheußlich.
Es war überhaupt nichts. Seither hat es mir keine Freude mehr gemacht, wenn ein Mann mich küßte - ich konnte nichts mehr spüren. Das hat mir Sorgen gemacht. Aber als Sie mich küßten, vorhin, als ich den Fisch erwischte - da habe ich es gespürt.«
»Freut mich«, sagte er und fand ihre Mitteilung schmeichelhaft und peinlich zugleich. Sie schwiegen beide.
Dann sagte sie: »Jetzt mögen Sie mich nicht mehr so sehr wie vorher.«
»Nein, es liegt nicht an dieser Geschichte. Ich fühle mich nur einfach wie ein Versuchsobjekt, das die richtige Reaktion hervorgerufen hat.«
»Verzeihen Sie«, sagte sie. »Seit das passiert ist, habe ich mir gewünscht, es jemandem erzählen zu können. Ich war mir selbst so widerwärtig und so traurig darüber, daß ich meiner Neugier nachgegeben habe.«
»Sie sollten aus dieser einen Erfahrung nicht eine große Angelegenheit machen, die Ihr ganzes Leben verändert«, sagte er behutsam. Sein Rücken begann zu schmerzen, und einige Haarbüschel waren ihm in die Hose gerutscht.
»Das möchte ich auch nicht«, sagte sie leise.
»Es gibt kein Leben ohne solche Erfahrungen. Es gibt keinen Menschen, der nicht andere verletzt - und auch sich selbst. Wir langweilen uns und spießen einen kleinen Fisch auf den Haken, wir sind hungrig und essen Fleisch, wir spüren Lust und machen Liebe.«
Das Mädchen begann zu weinen.
Er wandte sich ihr zu, staunend ergriffen von der tiefen Wirkung seiner Worte. Aber sie betrachtete weinend seinen Kopf.
»Es ist das erstemal, daß ich jemandem die Haare geschnitten habe«, sagte sie.
Langsam fuhren sie die Bergstraße zurück und führten stille Gespräche in der einbrechenden Dunkelheit. Einmal schlug Leslie die Hände vor das Gesicht und ließ sich in ihren Sitz zurückfallen, aber diesmal wußte er, daß sie lachte. Als sie bei dem Gasthof ankamen, küßte er sie vor dem Aussteigen zum Abschied. »Das war ein guter Tag«, sagte sie.
Ungesehen schlich er sich hinauf in sein Zimmer. Am nächsten Morgen reiste er sehr zeitig ab - er hatte Leslie gebeten, ihn bei ihren Gastgebern zu entschuldigen. Der Friseur war fünfzig Kilometer von Michaels nächster Station entfernt, und er hatte ihn seit Wochen nicht aufgesucht, weil der Mann sein Handwerk nicht verstand.
Kopfschüttelnd betrachtete der Alte den seltsamen Haarschnitt.
»Die muß ich aber sehr kurz schneiden, um die Stufen wegzukriegen«, sagte er.
Als er fertig war, konnte auch keine jarmulka mehr das traurige Resultat verbergen: von Michaels Haaren war nichts als ein brauner Flaum übriggeblieben.
In einem Gemischtwarenladen neben dem Friseurgeschäft erstand er eine khakifarbene Jagdmütze, die er in den folgenden Wochen auch an heißen Tagen trug, sich glücklich schätzend, daß er nicht barhäuptig beten durfte.
22
Als es wirklich Sommer geworden war, suchte Michael kein Nachtquartier mehr. Der Schlafsack, den Rabbi Sher so vorsorglich auf seine Liste gesetzt hatte, war zwar etwas stockfleckig geworden, erwies sich aber als äußerst brauchbar. Nachts schlief Michael unter den Sternen, immer darauf gefaßt, von einem Wolf oder einem Luchs verspeist zu werden, und lauschte dem Wind, der über die Berge kam und rastlos in den Bäumen rauschte. Am Nachmittag, wenn die fernen Berge in der Hitze blau zu flimmern begannen, unterbrach er seine Fahrt und tat es den Fischen gleich, anstatt sie zu fangen, lag nackt und allein im seichten Wildwasser, prustend und lachend über die eisige Kälte, oder gesellte sich, nur mit Unterhosen bekleidet, zu ein paar einfältig schweigsamen Burschen aus den Bergen, die an einer tieferen Stelle des Flusses schwammen.
Seine Haare wuchsen; als sie lang genug geworden waren, bürstete er sie jeden Morgen mit nasser Bürste zurück, um den Scheitel loszuwerden, den er vor dem kurzen Haarschnitt getragen hatte. Er rasierte sich regelmäßig und machte an jeder seiner Stationen von Wanne oder Dusche Gebrauch. Seine Gemeinde ernährte ihn nur zu gut, anläßlich der Besuche des Rabbiners gab es überall üppige Mahlzeiten. Er hörte auch auf, sich selbst um seine Wäsche zu kümmern, und führte einen entsprechenden Turnus ein, da vier Hausfrauen an seiner Strecke sich angeboten hatten, ihm diese Arbeit abzunehmen. Bobby Lilienthal hatte genug Hebräisch erlernt, um nun als Vorbereitung auf seine bar-mizwe mit der haf tara beginnen zu können. Stan Goodsteins Mutter starb, und Michael zelebrierte sein erstes jüdisches Begräbnis in seiner Gemeinde, und dann bestellte ihn Mrs. Marcus für den 12. August, und er zelebrierte seine erste Hochzeit.
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