Als er herauskam, war Silverstone fort.
Spurgeon rasierte sich sorgfältig, aber schnell, wie ein gespanntes schwarzes Fragezeichen über das einzige altmodische Waschbecken gebeugt; an seinem ersten Tag in einem neuen Krankenhaus mußten Präzedenzfälle gesetzt werden. Einer von ihnen war, zu den Morgenvisiten nicht als letzter im Büro des Oberarztes einzutreffen.
In seinem Zimmer zwängte er sich in den weißen Anzug, der so steif gestärkt war, daß er knisterte, in reine weiße Socken und die Schuhe, die er am Abend vorher geputzt hatte. Es blieben ihm nur noch wenige Minuten. Mit dem Frühstück war es nichts, dachte er bedauernd. Der Lift fuhr langsam; es würde lange dauern, bis er sich angesichts der Hast eines gedrängten Stundenplans an das zähflüssige Tempo der uralten Kabine gewöhnt haben würde. Das Büro des Oberarztes im zweiten Stock war voll junger Männer in weißen Ärztemänteln, die herum saßen, lümmelten oder standen; einige von ihnen versuchten, gelangweilt dreinzusehen, ein paar von ihnen gelang es sogar.
Der Oberarzt saß hinter seinem Schreibtisch und las dieSurgery. Es war Silverstone, sah Robinson bestürzt. Ein Komödiant oder ein Philosoph, dachte er und ärgerte sich über seinen Lapsus, einen völlig Fremden um dessen Meinung über den ihm noch unbekannten Chef zu fragen. Er ließ seinen Blick über die Gesichter im Zimmer gleiten. Alles Weiße. Bitte, lieber Gott, laß mich nicht schlappmachen, sagte er stumm, das Gebet, das er jahrelang vor jeder Prüfung gesprochen hatte.
Er trat von einem Fuß auf den anderen. Endlich kam der letzte, ein überstellter Facharztanwärter im ersten Jahr, sechs Minuten zu spät, die ersten sechs Minuten seiner Ausbildungszeit zum Facharzt.
»Wie heißen Sie?« fragte Silverstone.
»Potter, Doktor. Stanley Potter.«
Silverstone sah ihn starr an. Die Neuen warteten auf ein Zeichen, eine Enthüllung, eine Vorschau auf Kommendes.
»Dr. Potter, Sie haben uns warten lassen. Jetzt lassen wir die Patienten und Schwestern warten.«
Der Facharztanwärter nickte und lächelte verlegen.
»Haben Sie mich verstanden?«
»Ja.«
»Das hier ist ein klinischer Lehrgang und keine Show, die zu Ihrem Vergnügen inszeniert wurde, die Sie verspätet oder beiläufig besuchen können. Wenn Sie auf dieser Station arbeiten wollen, werden Sie sich wie ein Chirurg bewegen, denken und handeln.«
Potter lächelte unglücklich.
»Haben Sie mich verstanden?«
»Ja.«
»Gut.« Silverstone sah sich langsam im Zimmer um. »Haben Sie mich alle verstanden?«
Einige der Neuen nickten fast glücklich und tauschten heimlich vielsagende Blicke aus, da ihre Frage beantwortet war.
Ein Schwein, sagten sie einander mit den Augen.
Silverstone ging voraus, hinter ihm ein Schwarm von Facharztanwärtern und Spitalsärzten. Er blieb nur an bestimmten Betten stehen, plauderte einen Augenblick mit dem Patienten, sprach kurz über die Krankengeschichte, stellte ein, zwei Fragen mit einer schläfrigen, fast teilnahmslosen Stimme und drängte dann weiter. Die Gruppe nahm ihren Weg rund um den großen Saal.
Aus einem der Betten starrte eine Farbige, deren rotes Haar aus einer billigen Flasche stammte, durch ihn hin-durch, als er vor ihr stehenblieb und sie von einer stummen Mauer weißgekleideter junger Männer umringt wurde.
»Hallo«, sagte Silverstone.
Sie sieht einem halben Dutzend Huren aus meiner alten Gegend sehr ähnlich, dachte Spurgeon.
»Das ist ...«, Silverstone sah auf der Tabelle nach, »... Miss Gertrude Soames.« Er las einige Augenblicke. »Ger-trude war schon früher wegen einiger Symptomen im Krankenhaus, die auf Leberzirrhose deuteten - und die wahrscheinlich der üblichen Tatsache zuzuschreiben ist. Es scheint eine fühlbare Verhärtung vorhanden zu sein.«
Er zog das Laken zurück, hob das grobe Baumwollhemd hoch und ließ dünne Schenkel sehen, die zu einem melancholischen Dreieck und einem Bauch mit zwei alten Inzi-sionsnarben aufstiegen. Er betastete ihren Unterleib zuerst mit den Fingerspitzen einer Hand und dann mit beiden Händen ab, während sie ihm jetzt den Blick zuwandte. Spurgeon dachte an einen Hund, der gern zugebissen hätte, es aber nicht wagte.
»Genau hier«, sagte Silverstone, nahm Spurgeons Hand und legte sie auf die Stelle.
Gertrude Soames sah Spurgeon Robinson an.
Du bist dasselbe wie ich, sagten ihre Augen. Hilf mir.
Er sah weg, bevor ihr seine Augen sagen konnten: Ich kann dir nicht helfen.
»Spüren Sie es?« fragte Silverstone.
Robinson nickte.
»Gertrude, wir müssen etwas machen, das man eine Le-berbiopsie nennt«, sagte der Oberarzt freundlich aufmunternd.
Sie schüttelte den Kopf.
»O doch.«
»Nein«, sagte sie.
»Wir können sie nicht machen, wenn Sie es nicht wollen. Sie müssen ein Papier unterschreiben. Aber mit Ihrer Leber stimmt etwas nicht, und wir werden nicht wissen, wie wir Ihnen helfen sollen, falls wir diesen Test nicht machen.«
Wieder schwieg sie.
»Es ist bloß eine Nadel. Wir stecken eine Nadel hinein, und wenn wir sie herausnehmen, ist ein winziges Stückchen Leber an ihrer Spitze, nicht sehr viel, aber für unsere Zwecke reicht es.«
»Tut das weh?«
»Es tut nur ein kleines Bißchen weh, aber wir haben keine Wahl. Es muß gemacht werden.«
»Ich bin kein verdammtes Meerschweinchen für euch.«
»Wir brauchen kein Meerschweinchen. Wir wollen Ihnen helfen. Wissen Sie, was geschehen wird, wenn wir es nicht tun?« fragte er sanft.
»Ich habe verstanden.« Ihr Gesicht blieb steinern, aber die trüben Augen glänzten plötzlich, und Tränen liefen ihr zum Mund hinunter. Silverstone nahm ein Papiertaschentuch vom Nachttisch und wollte ihr das Gesicht abwischen, aber sie wandte den Kopf mit einem Ruck ab.
Er zog das Nachthemd wieder hinunter und richtete das Laken. »Überlegen Sie es sich«, sagte er, tätschelte ihr Knie, und sie gingen weiter.
In der Männerabteilung lag, von drei Kissen gestützt, ein großer Mann, so breit, daß das Bett überzuquellen schien, und beobachtete sie aufmerksam, als sie sich ihm näherten.
»Mr. Stratton ist Lastkraftwagenfahrer eines Abfüllkonzerns für alkoholfreie Getränke«, sagte Silverstone, die
Augen auf die Tabelle gerichtet. »Vor einigen Wochen fiel eine Holzkiste von seinem Lastwagen und traf ihn unterhalb des rechten Knies.« Er zog das Laken hinunter und enthüllte das Bein des Mannes, stämmig, aber weiß und ungesund aussehend, mit einer häßlichen, schwärenden und ungefähr zwölf Zentimeter langen Wunde.
»Fühlt sich Ihr Bein kalt an, Mr. Stratton?«
»Die ganze Zeit.«
»Man versuchte es mit Absaugen und Antibiotika, aber es heilt nicht richtig, und das Bein hat Farbe verloren«, sagte Silverstone. Er wandte sich an den Facharztanwärter, den er wegen seines Zuspätkommens so scharf gerügt hatte. »Was meinen Sie, Dr. Potter?«
Potter lächelte wieder, sah unglücklich drein, sagte jedoch nichts.
»Dr. Robinson?«
»Ein Arteriogramm.«
»Musterschüler. Wo würden Sie das Kontrastmittel injizieren?«
»Arteria femoralis.«
»Was, ich soll operiert werden?«
»Wir reden nicht über eine Operation, zumindest noch nicht«, sagte Silverstone. »Ihr Bein ist kalt, weil das Blut darin nicht so gut zirkuliert, wie es sollte. Wir müssen herausfinden, warum. Wir werden etwas Kontrastmittel in eine Arterie in Ihrer Leistengegend injizieren und dann einige Aufnahmen machen.«
Mr. Strattons Gesicht färbte sich rot. »So was kann ich nicht ertragen«, sagte er.
»Was meinen Sie damit?«
»Warum saugen Sie es nicht einfach weiter ab, so wie das Dr. Perlman getan hat?«
»Weil es Dr. Perlman versuchte und es Ihnen nicht gutgetan hat.«
»Versuchen Sie es weiter.«
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