Herr Leike, bitte treffen Sie sich mit Emma! Ich komme nun zum erbärmlichen Höhepunkt meiner Selbsterniedrigung: Ja, treffen Sie sich mit ihr, verbringen Sie eine Nacht mit ihr, haben Sie Sex mit ihr! Ich weiß, dass Sie es werden haben wollen. Ich »erlaube« es Ihnen. Sie haben meinen Freibrief, ich erlöse Sie hiermit von allen Skrupeln, ich betrachte es nicht als Betrug. Ich spüre, Emma sucht nicht nur die geistige, sondern auch die körperliche Nähe zu Ihnen, sie will es »wissen«, glaubt es zu brauchen, ihr verlangt danach. Das ist der Kitzel, das Neue, die Abwechslung, die ich ihr nicht bieten kann. So viele Männer haben Emma verehrt und begehrt, nie wäre mir aufgefallen, dass sie sich auch nur zu einem von ihnen sexuell hingezogen gefühlt hätte. Und dann sehe ich die EMails, die sie Ihnen schreibt. Und plötzlich erkenne ich, wie stark ihre Begierde sein kann, wenn sie einmal vom »Richtigen« geweckt worden ist. Sie, Herr Leike, sind ihr Auserwählter. Und ich würde mir fast wünschen: Haben Sie einmal Sex mit ihr. EINMAL - (ich wähle dafür eindringliche Blockbuchstaben, wie meine Frau es tut.) EINMAL. NUR EINMAL! Lassen Sie es das Ziel Ihrer schreiberisch aufgebauten Leidenschaft sein. Fixieren Sie damit den Schlusspunkt. Geben Sie Ihrem E-Mail-Verkehr die Krönung - und stellen Sie ihn danach ein. Geben Sie, Außerirdischer, Unantastbarer, mir meine Frau zurück! Geben Sie sie frei. Bringen Sie sie wieder auf den Boden zurück. Lassen Sie unsere Familie weiter existieren. Machen Sie es nicht mir zum Gefallen, nicht meiner Kinder wegen. Machen Sie es für Emma, ihr zuliebe. Ich bitte Sie!
Ich komme nun zum Ende meines peinlichen und peinigenden Hilferufs, meines fürchterlichen Gnadengesuchs. Noch eine abschließende Bitte, Herr Leike. Verraten Sie mich nicht. Lassen Sie mich außerhalb Ihrer beider Geschichte. Ich habe Emmas Vertrauen missbraucht, ich habe sie hintergangen, ich habe ihre private, intime Post gelesen. Ich habe dafür gebüßt. Ich könnte ihr nicht mehr in die Augen sehen, wüsste sie von meiner Spionage. Sie könnte mir nie wieder in die Augen sehen, wüsste sie, was ich gelesen habe. Sie würde sich und mich gleichermaßen dafür hassen. Bitte, Herr Leike, ersparen Sie uns das. Verschweigen Sie ihr diesen Brief. Und noch einmal: Ich bitte Sie!
Und nun sende ich Ihnen das grauenvollste Schreiben, das ich jemals aufgesetzt habe. Hochachtungsvoll, Bernhard Rothner.
Vier Stunden später
AW:
Sehr geehrter Herr Rothner, ich habe Ihre E-Mail erhalten. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weiß nicht einmal, ob ich etwas dazu sagen soll. Ich bin bestürzt. Sie haben nicht nur sich selbst gedemütigt, Sie haben uns alle drei beschämt. Ich muss nachdenken. Ich werde mich für eine Weile zurückziehen. Ich kann Ihnen nichts versprechen, gar nichts. Höflicher Gruß, Leo Leike.
Am nächsten Tag
Betreff: Leo???
Leo, wo sind Sie? Ich höre unentwegt Ihre Stimme. - Immer die gleichen Worte: »So hat der Typ die ganze Zeit mit mir gesprochen?« Ich weiß also nur zu genau, wie er spricht, der Typ. Allein: Er spricht schon seit Tagen nicht. Hatten Sie in jener Nacht doch zu viel französischen Landwein erwischt? Erinnern Sie sich? Sie haben mich eingeladen, in die Hochleitnergasse 17, Top 15. »Nur einmal riechen«, haben Sie geschrieben. Sie ahnen nicht, wie knapp ich daran war, zu kommen. So knapp wie noch nie. Ich bin mit den Gedanken rund um die Uhr bei Ihnen. Warum melden Sie sich nicht? Muss ich mir Sorgen machen?
Am nächsten Tag
Betreff: Leo????????
Leo, was ist los? Bitte schreiben Sie mir!! Ihre Emmi.
Eine halbe Stunde später
Betreff: An Hr. Rothner
Sehr geehrter Herr Rothner, ich schlage Ihnen einen kleinen Deal vor. Sie müssen mir etwas versprechen. Und ich verspreche Ihnen eine Gegenleistung. Also: Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihrer Frau kein Wort von Ihrer E-Mail und deren Hintergründen verrate. Und Sie müssen mir versprechen, dass Sie NIE WIEDER AUCH NUR EINE EINZIGE E-MAIL Ihrer Frau an mich und von mir an Ihre Frau lesen. Ich vertraue Ihnen, dass Sie dieses Versprechen, sofern Sie es abgeben, nicht brechen werden. Und Sie können umgekehrt versichert sein, dass ich zu meinem Wort stehe. Wenn Sie einverstanden sind, schreiben Sie: Ja. Andernfalls werde ich Ihrer Frau jenen reinen Wein einschenken, der im Grunde Ihrer ist und den Sie mir freundlicherweise hinübergeleert haben. Höflicher Gruß, Leo Leike.
Zwei Stunden später
RE:
Ja, Herr Leike, das kann ich Ihnen versprechen. Ich werde keine E-Mail mehr lesen, die nicht für mich bestimmt ist. Ich habe schon viel zu viel Verbotenes gelesen. Gestatten Sie mir die Nachfrage: Werden Sie meine Frau treffen?
Zehn Minuten später
AW:
Herr Rothner, das kann ich Ihnen nicht beantworten. Und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Meiner Meinung nach haben Sie mit Ihrem Schreiben an mich einen katastrophalen Fehler begangen, symptomatisch für ein grobes, vermutlich schon jahrelang währendes Versäumnis innerhalb Ihrer Ehe. Sie haben sich an die falsche Adresse gewendet. All das, was Sie mir erzählt haben, hätten Sie Ihrer Frau erzählen müssen, und zwar schon viel früher, gleich von Anfang an. Ich würde Ihnen dringlich empfehlen: Tun Sie es! Holen Sie es nach!
Im Übrigen ersuche ich Sie, mir keine E-Mails mehr zu senden. Ich glaube, es ist alles gesagt, was Sie meinten, mir sagen zu müssen. Es war bereits viel zu viel. Freundlicher Gruß, Leo Leike.
15 Minuten später
AW:
Hallo Emmi, ich komme gerade von einer Dienstreise aus Köln zurück. Tut mir Leid, es ging dort so turbulent zu, ich hatte nicht einmal ein paar ruhige Minuten, um Ihnen zu schreiben. Ich hoffe, in Ihrer Familie ist gesundheitlich wieder so weit alles in Ordnung. Ich werde die Schönwetterphase ausnützen und für ein paar Tage verreisen, irgendwo in den Süden, wo ich einmal für niemanden erreichbar bin. Ich glaube, das brauche ich, ich fühle mich schon ziemlich ausgelaugt. Wenn ich zurück bin, melde ich mich wieder. Ich wünsche Ihnen angenehme Sommertage - und möglichst wenige ausgekegelte Kinderarme. Alles, alles Liebe, Leo.
Fünf Minuten später
RE:
Wie heißt sie?
Zehn Minuten später
AW:
Wie heißt wer?
Vier Minuten später
RE:
Leo! Bitte beleidigen Sie nicht meine Intelligenz und meinen Leo-Spürsinn. Wenn Sie einmal über turbulente Dienstreisen und auszunützende Schönwetterphasen schwadronieren, Ihre Ausgelaugtheit beklagen, Ihre Unerreichbarkeit ankündigen und mir angenehme Sommertagswünsche androhen, dann gibt es für mich nur eines: EINE! Wie heißt sie? Doch nicht etwa - Marlene?
Acht Minuten später
AW:
Nein, Emmi, Sie irren. Es gibt da weder Marlene noch sonst wen. Ich muss mich einfach einmal zurückziehen. Die vergangenen Wochen und Monate haben mich aufgerieben. Ich brauche Erholung.
Eine Minute später
RE:
Erholung von mir?
Fünf Minuten später
AW:
Erholung von mir! Ich melde mich in einigen Tagen wieder. Versprochen!
Drei Tage später
Betreff: Leo fehlt!
Hallo Leo, ich bin es. Ich weiß, Sie sind nicht da, Sie erholen sich gerade von sich selbst. Wie macht man das eigentlich? Ich wünschte, ich könnte das auch. Ich brauche gerade dringend Erholung von mir. Stattdessen beschäftige ich mich mit mir und reibe mich dabei auf. Leo, ich muss Ihnen etwas gestehen. Das heißt: Ich muss es natürlich nicht, es ist auch gar nicht gut, dass ich es tue, aber es drängt mich einfach dazu. Leo: Ich bin momentan überhaupt nicht glücklich. Und wissen Sie warum? (Sie wollen es vermutlich gar nicht wissen, aber Sie haben keine Chance, tut mir Leid.) Ich bin nicht glücklich - ohne Sie. Zu meinem Glück gehören E-Mails von Leo. Zu meinem Glück fehlen mir EMails von Leo. Zu meinem Pech fehlen mir diese EMails zu meinem Glück gerade sehr. Seit ich Ihre Stimme kenne, fehlen sie mir gleich dreimal so sehr.
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