Zwei Minuten später
RE:
Nein, es ist kein Zufall. Ich habe diese Woche einfach mehr Zeit für mich zur Verfügung. Zeit, die ich gerne mit Menschen verbringe, die ich mag. Zeit für Freunde, oder solche, die es noch werden könnten. Apropos Zeit: Es ist gleich acht Uhr. Ich muss weg, Mia wartet sicher schon. Schönen Abend, Leo.
Fünf Stunden später
RE: Leo?
Hallo Leo, sind Sie zufällig noch wach? Trinken Sie noch ein Glas Wein mit mir? Leo, Leo, Leo. Mir geht es gar nicht gut. Emmi.
Dreizehn Minuten später
AW:
Ja, ich bin noch wach. Das heißt: Ich bin schon wieder wach. Ich habe nämlich den Emmi-Weckruf aktiviert. Ich habe das Klangzeichen der Verkündigung des Einlangens einer neuen E-Mail auf volle Lautstärke gedreht und den Laptop neben meinen Kopfpolster gelegt. Soeben hat es mich aus dem Bett gehoben. Emmi, ich habe gewusst, dass Sie mir heute Nacht noch schreiben! Wie spät ist es eigentlich? - Ach, erst kurz nach Mitternacht. Lange haben Sie und Mia aber nicht durchgehalten! (Wein trinke ich nicht mehr. Ich habe schon Zähne geputzt. Und Wein auf Zahnpasta ist wie Nudelsuppe zum Frühstückskaffee.)
Zwei Minuten später
RE:
Leo, ich bin sooooooo froh, dass Sie sich melden!!! Wieso haben Sie gewusst, dass ich Ihnen noch schreibe?
Sieben Minuten später
AW:
1.) Weil Sie gerne Zeit mit Menschen verbringen, die Sie mögen. Zeit »mit Freunden oder solchen, die es noch werden könnten«.
2.) Weil Sie alleine zu Hause sind.
3.) Weil Sie sich einsam fühlen.
4.) Weil der Nordwind bläst.
Zwei Minuten später
RE:
Danke, Leo, dass Sie mir nicht böse sind. Ich habe Ihnen gestern fürchterlich nüchterne E-Mails geschrieben. Sie sind kein normaler Freund für mich. Sie bedeuten mir viel, viel mehr. Sie sind für mich. Sie sind. Sie sind. Sie sind der, der mir meine ungestellten Fragen beantwortet: Ja, ich fühle mich einsam, und deshalb schreibe ich Ihnen!
40 Sekunden später
AW:
Und wie war es mit Mia?
Zweieinhalb Minuten später
RE:
Es war grauenhaft! Sie mag nicht, wie ich über Bernhard rede. Sie mag nicht, wie ich über meine Ehe rede. Sie mag nicht, wie ich über meine Familie rede. Sie mag nicht, wie ich über meine E-Mails rede. Sie mag nicht, wie ich über meinen ... wie ich über Leo rede. Sie mag nicht, wie ich rede. Sie mag nicht, dass ich rede. Sie mag nicht. Sie mag mich nicht.
Eine Minute später
AW:
Warum reden Sie auch über solche Sachen? Ich dachte, Sie wollten mit ihr eine Bar-Tour machen, wie in alten Zeiten.
Drei Minuten später
RE:
Alte Zeiten kann man nicht wiederholen. Wie schon der Name sagt, sind diese Zeiten alt. Neue Zeiten können nie wie alte Zeiten sein. Wenn sie es versuchen, wirken sie alt und verbraucht, so wie diejenigen, die sie herbeisehnen. Man soll nie alten Zeiten nachtrauern. Wer alten Zeiten nachtrauert, der ist alt und trauert. Soll ich Ihnen etwas verraten? Ich wollte nichts wie nach Hause - zu Leo.
50 Sekunden später
AW:
Das ist schön, dass ich mitunter schon Ihr Zuhause bin!
Zwei Minuten später
RE:
Leo, ganz ehrlich, was halten Sie von mir und Bernhard, nach alldem, was Sie von mir und von Mia darüber gehört haben? Bitte, ganz ehrlich!
Vier Minuten später
AW:
Pfffff - ist das wirklich eine Frage für halb ein Uhr nachts? Und: Wollten Sie Ihr »Innenleben« nicht immer schon und gerade noch absolut fern von mir halten? Aber bitte, also gut: Ich glaube, Sie führen eine gut funktionierende Ehe.
45 Sekunden später
RE:
»Gut funktionierend«: War das abfällig? Ist das was Schlechtes? Warum vermitteln mir alle wichtigen Menschen, dass eine »gut funktionierende« Beziehung eine schlechte Beziehung ist?
Sechs Minuten später
AW:
Emmi, das war nicht abfällig. Wenn etwas gut funktioniert, kann es nicht so schlecht sein, oder? Schlecht ist es erst, wenn es nicht mehr gut funktioniert. Dann müsste man sich fragen: Warum funktioniert es nicht mehr so gut? Oder: Kann es überhaupt besser funktionieren? Aber Emmi, ich glaube, ich bin wirklich der Falsche, um mit Ihnen über Bernhard und Ihre Ehe zu diskutieren. Mia ist vermutlich ebenfalls die Falsche. Bernhard, ja Bernhard wäre der Richtige, denke ich.
13 Minuten später
AW:
Hey, Emmi, sind Sie schon eingeschlafen?
35 Sekunden später
RE:
Leo, ich möchte gerne Ihre Stimme hören.
25 Sekunden später
AW:
Wie bitte?
40 Sekunden später
RE:
Ich möchte gerne Ihre Stimme hören!
Drei Minuten später
AW:
Ja, tatsächlich? Wie hätten Sie sich's denn vorgestellt? Soll ich ein Demoband anfertigen und Ihnen zukommen lassen? Was wollen Sie von mir hören? Genügt eine Sprechprobe, »einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig«? Oder soll ich ein Lied singen? (Wenn ich einmal zufällig einen Ton erwische, dann entkommt er mir nicht mehr, dann klingt das gar nicht so schlecht.) Sie könnten mich auf Ihrem Piano begleiten ...
55 Sekunden später
RE:
Jetzt! LEO, ICH MÖCHTE JETZT GERNE IHRE STIMME HÖREN. Bitte erfüllen Sie mir diesen Wunsch. Rufen Sie mich an. 8317 433. Sprechen Sie mir auf den Anrufbeantworter. Bitte, bitte, bitte! Nur ein paar Worte.
Eine Minute später
AW:
Und ich würde gerne einmal hören, wie Sie solche Sätze aussprechen, die Sie in Ihren E-Mails mit Großbuchstaben schreiben. Schreien Sie die? Schrill? Kreischend?
Zwei Minuten später
RE:
Also okay, Leo, folgender Vorschlag: Sie rufen mich jetzt an und sprechen mir eine E-Mail aufs Band. Zum Beispiel: »Ja, tatsächlich? Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich ein Demoband anfertigen und Ihnen zukommen lassen? Was wollen Sie von mir hören ...« Und so weiter. Und danach rufe ich Sie an und spreche: »Jetzt! LEO, ICH MÖCHTE GERNE IHRE STIMME HÖREN. Bitte erfüllen Sie mir ... « Und so weiter.
Drei Minuten später
AW:
Gegenvorschlag: Einverstanden, aber verlegen wir das Ganze auf morgen. Ich muss erst wieder zu Stimme kommen. Außerdem bin ich hundsmüde. Anrufbeantworter-Session heute Abend, gegen 21 Uhr - zu einem guten Glas Wein. Ist das okay?
Eine Minute später
RE:
Okay. Gute Restnacht, Leo. Danke, dass Sie da sind. Danke, dass Sie mich aufgefangen haben. Danke, dass es Sie gibt. Danke!
45 Sekunden später
AW:
Und jetzt werfe ich den Laptop aus meinem Bett! Gute Nacht.
Am nächsten Abend
Betreff: Unsere Stimmen
Hallo Emmi, machen wir es wirklich?
Drei Minuten später
RE:
Na sicher, ich bin schon ganz aufgeregt.
Zwei Minuten später
AW:
Und wenn Ihnen meine Stimme nicht gefällt? Wenn Sie erschüttert sind? Wenn Sie sich denken: So hat der Typ die ganze Zeit mit mir gesprochen? (Sehr zum Wohle! Ich trinke französischen Landwein.)
Eineinhalb Minuten später
RE:
Und umgekehrt? Wenn Sie meine Stimme nicht mögen? Wenn es Ihnen dabei die Zehennägel aufstellt? Wenn Sie sich mit mir danach gar nicht mehr unterhalten wollen? (Gin gin! Ich trinke Whiskey, wenn es erlaubt ist. Ich bin zu nervös für Wein.)
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