Ich habe den gestrigen Abend und einige Nachtstunden mit Mia verbracht. Es war das erste gute Treffen mit ihr seit vielen Jahren. Und wissen Sie, warum? (Sehr gemein, ich weiß, aber das müssen Sie sich jetzt anhören.) Das Treffen war gut, weil ich endlich unglücklich war. Mia sagt, ich war im Grunde so wie immer, nur habe ich es diesmal zugegeben, vor mir selbst und auch vor ihr. Dafür ist sie mir dankbar. Klingt traurig, oder?
Mia behauptet, ich habe mich auf sonderbare Weise, nämlich schriftlich, in Sie verliebt, Leo. Sie meint, ich kann ohne Sie derzeit gewissermaßen nicht leben, zumindest nicht glücklich. Und sie sagt: Sie kann das sogar verstehen. Ist das nicht fürchterlich? Dabei liebe ich doch an sich meinen Mann, Leo. Ganz ehrlich. Ich habe ihn ausgesucht, ihn und seine Kinder, ihn und meine Kinder. Ich wollte diese Familie und keine andere, bis heute nicht. Es waren damals tragische Umstände, das erzähle ich Ihnen ein andermal. (Fällt Ihnen auf, ich rede freiwillig über meine Familie ... ) Bernhard hat mich nie enttäuscht und würde mich nie enttäuschen. Nie, nie, nie! Er gibt mir alle Freiheiten, erfüllt mir alle Wünsche. Er ist so ein gebildeter, selbstloser, ruhiger, angenehmer Mann. Natürlich würgt einen mit der Zeit die Routine. Die Abläufe sind geregelt, es mangelt an Überraschungen. Wir kennen einander in- und auswändig, es gibt keine Geheimnisse mehr. »Vielleicht fehlt dir einfach nur das Geheimnis. Vielleicht hast du dich in ein knisterndes Geheimnis verliebt«, sagt Mia. »Was soll ich tun?«, sage ich: »Ich kann aus Bernhard nicht plötzlich ein knisterndes Geheimnis machen.« Leo, was sagen Sie: Kann ich aus Bernhard ein knisterndes Geheimnis machen? Kann man aus acht Jahren Familienleben ein knisterndes Geheimnis machen?
Ach Leo, Leo, Leo. Mir fällt momentan einfach alles so schwer. Ich bin nicht gut drauf. Mir fehlt jeder Antrieb. Mir fehlt jede Lust. Mir fehlt - der eine und einzige Leo. Ich weiß nicht, wo das hinführen soll. Ich will es gar nicht wissen. Es ist mir egal. Hauptsache, Sie schreiben mir bald wieder. Bitte beeilen Sie sich mit Ihrer Von-sich-selbst-Erholung. Ich möchte wieder Wein mit Ihnen trinken. Ich will von Ihnen wieder geküsst werden wollen. (War das ein deutscher Satz?) Ich brauche keine wirklichen Küsse. Ich brauche den, der mich in manchen Situationen derart unbedingt dringend sofort küssen will, dass er nicht anders kann, als es mir zu schreiben. Ich brauche Leo. Ich komme mir so einsam vor mit meiner Whiskeyflasche. Ich habe so viel Whiskey getrunken, Leo. Merken Sie es? Wie wäre das wohl alles mit Ihnen, das Leben? Wie lange würden Sie mich unbedingt dringend sofort küssen wollen? Wochen, Monate, Jahre, immer? Ich weiß, ich soll nicht so denken. Ich bin glücklich verheiratet. Aber ich fühle mich unglücklich dabei. Das ist, glaube ich, ein Widerspruch. Der Widerspruch sind Sie, Leo. Danke, dass Sie mir zugehört haben. Einen Whiskey trinke ich noch. Gute Nacht, Leo, Sie fehlen mir so sehr.
Ich würde Sie sogar blind küssen. Ja, das würde ich tun. Gerade jetzt.
Zwei Tage später
Betreff: Kein Wort
Dreißig Grad und kein Wort vom Vonsichselbsterholer. Ich weiß, meine E-Mail von vorgestern war an der Schmerzgrenze. Habe ich Ihnen zu viel zugemutet, Leo? Glauben Sie mir, es war der Whiskey! Der Whiskey und ich. Ich, was in mir drinnen steckt. Der Whiskey, was er aus mir herausgeholt hat. Sehnsüchtig, Emmi.
Am nächsten Tag
Kein Betreff
Südwind - und ich wälze mich dennoch im Bett herum. Ein einziger Buchstabe von Ihnen, und ich würde sofort einschlafen. Gute Nacht, mein lieber Vonsich- selbsterholer.
Zwei Tage später
Betreff: Meine letzte Mail
Meine letzte Mail ohne Gegenmail! Leo, das ist echt brutal, was Sie da machen! Bitte hören Sie auf damit, es tut höllisch weh. Alles ist erlaubt, alles außer schweigen.
Am nächsten Tag
Betreff: Gegenmail
Liebe Emmi, ich habe nur ein paar Stunden gebraucht, um mich zu einer Entscheidung durchzuringen, die mein Leben verändern wird. Aber ich habe neun Tage gebraucht, um Ihnen die Konsequenzen mitzuteilen. Emmi, ich übersiedle in wenigen Wochen für mindestens zwei Jahre nach Boston. Ich werde dort eine Projektgruppe an der Universität leiten. Der Job ist sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus finanzieller Sicht äußerst reizvoll. Meine Lebenssituation erlaubt es mir, so spontan zu sein. Es gibt wenige Dinge, die ich hier aufgeben muss. Offenbar liegt es in unserer Familie, irgendwann einmal den Kontinent zu wechseln. Fehlen werden mir ein paar enge Freunde. Fehlen wird mir meine Schwester Adrienne. Und fehlen wird mir: Emmi. Ja, die wird mir ganz besonders fehlen.
Ich habe noch eine zweite Entscheidung getroffen. Sie klingt so hart, dass mir die Finger zittern, wenn ich sie Ihnen jetzt schriftlich mitteilen muss, gleich nach dem Doppelpunkt: Ich beende unseren E-Mail-Kontakt. Emmi, ich muss Sie aus dem Kopf bekommen. Sie können nicht mein erster und mein letzter Gedanke jedes Tages bis ans Ende meines Lebens sein. Das ist krank. Sie sind »vergeben«, Sie haben Familie, Sie haben Aufgaben, Herausforderungen, Verantwortlichkeiten. Sie hängen sehr daran, es ist die Welt, in der sie glücklich sind, das haben Sie mir deutlich zu verstehen gegeben. (Mit hochprozentigen Sehnsuchts-Whiskey-Mischungen schreibt man sich schon einmal eine Unglücksstimmung herbei, wie in Ihrer letzten langen E-Mail, die ist aber spätestens beim Aufwachen am Tag danach wieder weg.) Ich bin überzeugt davon, dass Ihr Mann Sie liebt, wie man eine Frau nach so vielen Jahren Zusammensein nur lieben kann. Was Ihnen fehlt, dürfte lediglich ein bisschen außereheliches Abenteuer im Kopf sein, etwas Kosmetik für Ihren abgeschminkten Gefühlsalltag. Darauf gründet sich Ihre Zuneigung zu mir. Darauf stützt sich unsere Schreib-Beziehung. Sie stiftet vermutlich mehr Verwirrung, als sie auf Dauer bereichernd für Sie wäre.
Nun zu mir: Emmi, ich bin 36 (so, jetzt wissen Sie's). Ich habe nicht vor, mit einer Frau durchs Leben zu gehen, die nur in der Mailbox frei für mich ist. Boston gibt mir die Gelegenheit, neu zu beginnen. Ich habe plötzlich wieder Lust, eine Frau auf stinkkonservative Art kennen zu lernen: Zuerst sehe ich sie, dann höre ich ihre Stimme, dann rieche ich sie, dann küsse ich sie vielleicht. Und irgendwann später werde ich ihr wohl auch einmal eine E-Mail schreiben. Der umgekehrte Weg, den wir beschritten haben, war und ist wahnsinnig aufregend, aber er führt nirgendwohin. Ich muss meine Blockade im Kopf lösen.
Monatelang habe ich in jeder schönen Frau, die mir auf der Straße begegnet ist, Emmi gesehen. Aber keine von ihnen konnte sich mit der wirklichen messen, keine konnte mit ihr in Konkurrenz treten, denn die Echte hatte ich fern jeder Öffentlichkeit, gesellschaftlich isoliert, abgeschieden, ganz für mich allein im Computer. Dort holte sie mich von der Arbeit ab. Dort wartete sie vor, nach oder statt dem Frühstück auf mich. Dort wünschte sie mir am Ende eines langen gemeinsamen Abends gute Nacht. Oft genug verweilte sie bis zum Morgengrauen bei mir, im Zimmer, im Bett, steckte mit mir insgeheim unter einer Decke. Doch letztlich blieb sie in jeder Phase unerreichbar, uneinnehmbar für mich. Ihre Bilder waren so zart und zerbrechlich, dass sie meinem realen Blick auf sie nicht standgehalten hätten, ohne sofort Risse und Sprünge zu bekommen. Diese künstlich entstandene Emmi erschien mir so filigran, dass sie in sich zusammengefallen wäre, hätte ich sie auch nur einmal echt berührt. Physisch war sie nicht mehr als die Luft zwischen den Buchstabentasten, mit denen ich sie mir Tag für Tag herbeischrieb. Einmal hineinpusten - und fort wäre sie gewesen. Ja, Emmi, für mich ist es so weit: Ich werde die Mailbox schließen, ich werde in meine Tastatur hineinpusten, ich werde den Bildschirm herunterklappen. Ich werde mich von Ihnen verabschieden. Ihr Leo.
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