Zehn Minuten später
RE:
Lieber Leo, Sie können mich (jetzt) weder sehen noch hören, deshalb verrate ich Ihnen: Ich sage Nachfolgendes in absoluter Ruhe und Gelassenheit, langsam, bedächtig, gar kein bisschen aufgekratzt, kreischend oder aggressiv, nein, nein, ich lege meine vollwertige Friedfertigkeit und Andacht in die nächsten Worte: Leo, ich habe noch nie so eine beschissene E-Mail gelesen wie jene, die Sie mir soeben zugemutet haben. Und tschüss!
15 Minuten später
AW:
Das tut mir aufrichtig Leid für Sie, Emmi. Dann werde ich wohl besser eine E-Mail-Pause einlegen. Wenn Sie wieder gewillt sind, mit dem Sprachrohr Ihrer »Außenwelt« in Kontakt zu treten, dann melden Sie sich ruhig. Alles Liebe, Leo.
Fünf Tage später
Betreff: Ich sehne mich (...)
Hallo Leo, wie geht es Ihnen beim »Entwickeln der Dinge«? Haben Sie und Mia Ihre Gefühle schon ein bisschen auseinander sortiert? Wissen Sie schon, was »nur für den Augenblick« ist und was »Bestand« haben könnte? Haben Sie schon »jeder für sich« ein paar »Fragen einzeln beantwortet«?
Ach, ich sehne mich nach dem alten Leo, der gesagt hat, was zu sagen war, und der gefühlt hat, was zu fühlen war. Ich sehne mich so sehr nach ihm!!! Schönen Tag, Emmi.
(PS: Über mich und Mia sind Sie ja vermutlich informiert. Nachdem ich gemerkt habe, dass auch sie offensichtlich nicht mehr weiß, was sie mir sagen soll, habe ich sie gebeten, Leo Leike als Tabuthema zwischen uns zu betrachten.)
Drei Stunden später
AW:
Liebe Emmi, Ihre letzte Bemerkung war dezent untertrieben. Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie zu Ihrer Freundin Mia vor einigen Tagen am Telefon gesagt: »Entweder du erzählst mir alles über dich und Leo - oder gar nichts. Im zweiten Fall schlage ich vor, dass wir unserer langjährigen Freundschaft ein paar Monate verdienter Auszeit gönnen.« Emmi, was ist los mit Ihnen? Ich verstehe Sie nicht. SIE waren es doch, die Mia und mich zusammengebracht hat. SIE wollten unbedingt, dass ich sie kennen lerne. SIE haben in uns das Traumpaar gesehen. Warum sind Sie jetzt so zynisch und bösartig? Waren Sie sich Ihrer Ergänzung zum Innenleben, Ihres außerfamiliären Besitzes Leo zu sicher? Sind Sie jetzt verärgert, weil Sie glauben, Sie haben Ihr virtuelles Eigentum an Ihre beste Freundin verloren?
Emmi, ich war über Monate keinem Menschen näher als Ihnen. Und ich war (und bin) so froh, dass unsere Versuche, uns »physisch« zu begegnen, allesamt gescheitert sind. Es ist mir egal, wie Sie aussehen, solange ich Sie so sehen kann, wie ich Sie sehen will. Ich bin dankbar, dass ich nicht erfahren muss, dass Sie in Wirklichkeit eine andere sind als »meine Heldin Emmi aus meinem E-Mail-Roman«. Da sind Sie perfekt, die Schönste der Welt, da kommt keine an Sie heran. Aber Emmi, es gibt da eben keine Steigerung mehr für uns. Alles andere spielt sich außerhalb unserer beiden Bildschirme ab. Mia ist der beste Beweis dafür. Ich will ehrlich sein: Es hat mich zunächst ziemlich gekränkt, dass Sie mich mit ihr verkuppeln wollten. Mein erstes Treffen war eher eine Art Trotzreaktion an Ihre Adresse, Emmi. Aber dann habe ich schnell begriffen, was den Unterschied zwischen Ihnen und ihr ausmacht. Sie, Emmi, wagen nicht einmal, Ihr Piano zu beschreiben, weil es in meiner Welt so absolut nichts zu suchen hat. Mia aber beugt sich einen halben Meter von mir entfernt über einen winzigen Tisch und wickelt Spaghetti al Pesto über den Löffel. Wenn sie den Kopf zur Seite dreht, spüre ich den Luftzug, der dadurch entsteht. Ich kann sie gleichzeitig sehen, hören, angreifen, riechen. Mia ist Materie. Emmi ist Fantasie. Beides mit all seinen Vor- und Nachteilen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Ihr Leo.
30 Minuten später
RE:
Mein Piano ist schwarz, quaderförmig und besteht hauptsächlich aus Holz. Oben ragt ein Teil horizontal vor. Darauf befinden sich, klappt man eine schwarze, vorne abgerundete Platte hoch, Tasten, weiße und schwarze. Eigentlich müsste ich auswendig wissen, wie viele Tasten es sind, aber, leider, ich muss erst nachzählen. Darf ich Ihnen die genaue Anzahl später nachreichen, Leo? Jedenfalls sind die weißen Tasten größer, und es gibt mehr davon. Wenn ich auf eine Taste drücke, dann kommt oben im Klavier ein Ton heraus. Ganz genau weiß man nie, woher er kommt. Man kann auch nicht gut nachsehen, während man spielt. Aber viel entscheidender ist der Klang. Wenn ich eher eine Taste links wähle, dann ist der Ton eher tief. Je mehr rechts sich die Taste befindet, auf die ich drücke, desto höher wird das Geräusch. Drücke ich mehrmals hintereinander auf verschiedene schwarze Tasten, entsteht eine einfache chinesische Melodie, eine Art fernöstliches Kinderlied. Wenn ich Ihnen noch mehr über die weißen Tasten verraten soll, und was man mit Ihnen machen kann, lassen Sie es mich wissen, Leo. Ich glaube aber, Ihnen hiermit die wichtigsten Dinge von meinem Piano veranschaulicht zu haben. Ja, ich habe es gewagt, mein Piano zu beschreiben! Treuest ergeben, Ihre Emmi.
Fünf Minuten später
AW:
Das haben Sie schön gemacht, Emmi. Ich glaube jetzt, einen Begriff von Ihrem Piano zu haben. Ja, ich habe es geradezu plastisch vor mir. Und Sie, Emmi, sitzen davor und zählen Tasten. Danke für den Anblick! Gute Nacht.
Eine Stunde später
RE:
Hallo Leo, noch einmal ich. Ich bin noch nicht müde. Im Grunde weiß ich leider nicht, was ich sagen soll. Ich bin einfach nur traurig. Ich dachte, Mia wird uns beide auch physisch näher zueinander bringen. Doch sie bringt uns offensichtlich immer weiter auseinander. Und ich kann ihr deswegen nicht einmal böse sein, es war ja meine Idee. Ich möchte ehrlich sein:
Ich wollte zwar, dass Sie sie kennen lernen, aber ich wollte Sie beide nicht zusammenführen. Für mich waren (und sind!) Sie alles andere als ein »Traumpaar«. Ich war mir Ihrer tatsächlich zu sicher, Leo. Ich dachte, ich kenne Sie. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass Sie sich in sie verlieben. Mia ist zweifellos attraktiv. Aber sie ist so ungefähr das genaue Gegenteil von mir. Sie ist durch und durch Sportsfrau, kräftig, drahtig, sehnig. Jedes Muttermal ist bei ihr durchtrainiert. Bei ihr bestehen vermutlich sogar die Achselhaare aus Muskelmasse. Vor lauter Brustkorb sieht man die Brust nicht. Und ihre von der Sonne gezeichnete Haut ist eine einzige Kokosnussöl-Raffine- rie. Mia ist der personifizierte Fitnessgedanke. Sex muss für sie paarweises Liegestütz- und BeckenmuskelTraining mit Unterbrechung in Form von höhepunktuell bedingten Verschnaufpausen sein. Sie ist eine Frau fürs Surfbrett, für die Heilfastenkur, für den StadtMarathon in New York. Aber doch niemals eine Frau für Leo - dachte ich zumindest. Sie, Leo, habe ich ganz anders eingeschätzt. Mia zu begehren, heißt mich zurückzuweisen. Können Sie nachvollziehen, dass mich das deprimiert?
Zehn Minuten später
AW:
Wer sagt, dass ich Mia begehre? Wer sagt, dass sie mich begehrt?
Zwei Minuten später
RE:
Na hoppala: Sie! Sie! Sie sagen es! Und wie Sie es sagen! Sie sagen es grauenvoll! Grauenvoller als in Ihrer ekligen, widerlichen Wir-müssen-uns-über-unsere- Gefühle-klar-werden-E-Mail kann man es gar nicht sagen. Sie sagen: »Wir verstehen uns blendend, in vielerlei Hinsicht.« Iiiiiiiiihhhh - das hätte ich Ihnen niemals zugetraut, Leo!
Fünf Minuten später
AW:
Stimmt aber: Mia und ich verstehen uns blendend, in vielerlei Hinsicht. Da ist kein Wort davon gelogen. Zum Beispiel verstehen wir uns blendend, was unsere gemeinsamen Anschauungen, Betrachtungen und Einschätzungen Ihrer Person betrifft, werte Emmi Rothner!
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