Drei Minuten später
RE:
Sagen Sie bloß, Sie haben nicht mit ihr geschlafen.
Vier Minuten später
AW:
Emmi, Sie fühlen sich gerade wieder in einen Mann hinein, stimmt's? Bleiben Sie beim Thema. Ob ich mit Mia geschlafen habe oder nicht, ist absolut irrelevant.
55 Sekunden später
RE:
Irrelevant? Nicht für mich! Wer mit Mia schläft, schläft niemals mit mir, nicht einmal geistig. Darauf lege ich Wert.
Zwei Minuten später
AW:
Reduzieren Sie unser Verhältnis nicht immer wieder darauf, dass wir gelegentlich geistig miteinander geschlafen haben.
50 Sekunden später
RE:
Sie haben mit mir gelegentlich geistig geschlafen? Das höre ich so zum ersten Mal. Klingt aber gut!
Eine Minute später
AW:
Apropos schlafen. Diesmal ganz körperlich: Gute Nacht, Emmi. Es ist zwei Uhr morgens.
30 Sekunden später
RE:
Ja, herrlich. Wie in alten Zeiten! Gute Nacht. Emmi.
Am nächsten Morgen
Betreff: Kein Wort von Sex
Guten Morgen, Leo. Was waren das eigentlich für gemeinsame Betrachtungen zu meiner Person, die Sie mit Mia angestellt haben? Was hat Mia über mich erzählt? Wissen Sie jetzt, welche der drei Emmis mit Schuhgröße 37 ich bin? Bin ich wenigstens diejenige Emmi, von der Ihre Schwester behauptet hat: »In die würdest du dich verlieben«?
Eineinhalb Stunden später
AW:
Sie werden es nicht glauben, Emmi, aber wir haben Sie nicht äußerlich, sondern innerlich betrachtet. Ich habe Mia gleich von Anfang an zu verstehen gegeben, dass ich nicht wissen will, wie Sie aussehen. Sie hat darauf geantwortet: »Da versäumen Sie aber was!« (Sie ist wirklich eine gute Freundin.) Mia hat natürlich ebenfalls gewusst, dass Sie alles andere wollen, als dass ich mit ihr zusammenkomme. Wir waren uns der für uns bestimmten Rollen sofort im Klaren. Wir sind uns zehn Minuten gegenüber gesessen - und waren Verbündete in Angelegenheiten Emmi Rothner.
Zwölf Minuten später
RE:
Und dann haben Sie sich, mir zu Fleiß, ineinander verliebt.
Eine Minute später
AW:
Sagt wer?
Acht Minuten später
RE:
Sagt Leo Leike: »Mia aber beugt sich einen halben Meter von mir entfernt über einen winzigen Tisch und wickelt Spaghetti al Pesto über den Löffel.« Trief. »Wenn sie den Kopf zur Seite dreht, spüre ich den Luftzug, der dadurch entsteht.« Trief. »Ich kann sie gleichzeitig sehen, hören, angreifen, riechen.« Trief. »Mia ist Materie.« Schwülst. Wissen Sie Leo, bei Marlene verzeih ich es Ihnen. Sie war vor unserer Zeit und hat ältere Rechte. Aber Mias Luftzüge, wenn sie den Kopf zur Seite dreht, die sind für mich eine echte Zumutung. Ich will auch einmal den Kopf zur Seite drehen und dabei einen Luftzug verursachen, den Sie spüren, Meister Leo! (Okay, den »Meister« nehme ich zurück.) Was hat Mias Luftzug, was meiner nicht hat? Glauben Sie mir, ich kann wunderschöne Luftzüge erzeugen, wenn ich den Kopf zur Seite drehe.
20 Minuten später
AW:
Wir haben auch über Ihre Ehe geredet, Emmi.
Drei Minuten später
RE:
Ach ja? Kommen Sie wieder zu Ihrem Lieblingsthema? Und was sagt Mia? Hat sie Ihnen verraten, dass sie Bernhard nicht leiden kann?
15 Minuten später
AW:
Nein, das hat sie keineswegs. Sie hat nur positiv von ihm gesprochen. Sie sagt, Ihre Ehe ist die Vorbildehe schlechthin. Sie sagt, es ist gespenstisch, aber da passt wirklich alles. Sie sagt, seit Emmi mit Bernhard liiert ist, hat sie keine Schwachstellen mehr. Sie hat es effektiv verlernt, sich Blößen zu geben. Wenn sie mit Bernhard und den beiden Kindern wo auftaucht, dann glaubt man, die Traumfamilie ist eingetroffen. Alle lächeln, alle sind freundlich, alle sind glücklich. Zwischen Ihnen und Ihrem Mann bedarf es gar keiner Worte, es herrscht stille Harmonie. Ja, sogar die Geschwister sitzen nebeneinander und umarmen sich. - Absolute Idylle. Freunde, die die Rothners zu Gast haben, schieben danach besser ein paar Therapiestunden ein, meint Mia. Man glaubt plötzlich, alles falsch gemacht zu haben. Man fühlt sich wie ein Versager. Denn man hat einen Partner, der einem entweder nicht zur Seite steht - oder nicht mehr zu Gesicht. (Oder beides.) Oder man hat Kinder, die einen terrorisieren. Oder alles drei. Oder man hat weder dies noch das noch jenes - man hat niemanden. So wie Mia, sagt Mia. Und einzig und allein im Vergleich mit Emmi kommt ihr das manchmal erbärmlich vor.
18 Minuten später
RE:
Ja, ich weiß, wie Mia über mich, meine Ehe, mein Familienleben denkt. Sie mag Bernhard nicht, weil sie das Gefühl hat, er hat ihr etwas weggenommen: mich, ihre beste Freundin. Ja, verdammt, sie leidet darunter, dass es mir einfach nicht mehr so schlecht geht wie ihr. Nicht mehr schlecht genug, um mich bei ihr auszuweinen. Unsere Freundschaft ist einseitig geworden: Früher hatten wir gemeinsame Themen, gemeinsame Ärgernisse, gemeinsame Feinde - zum Beispiel Männer und ihre Makel. Das war ergiebig, da hatten wir uns Bände zu erzählen, da konnten wir aus dem Vollen schöpfen. Seit Bernhard ist das anders geworden. Ich kann beim besten Willen nichts Schlechtes über ihn sagen. Es hat keinen Sinn, mich künstlich über Lappalien aufzuregen, nur um Mia ein Gefühl der Solidarität vorzutäuschen. Wir befinden uns eben in grundverschiedenen Lebenssituationen. Das ist das Problem zwischen Mia und mir.
Fünf Minuten später
AW:
Mia sagt, es fällt ihr überhaupt nur eine einzige Sache ein, die nicht in das Bild der perfekten Rothner'schen Familienidylle passt. Zumindest kann sie sich keinen rechten Reim darauf machen. Obwohl sie schon öfters mit Ihnen darüber gesprochen hat.
50 Sekunden später
RE:
Worüber?
40 Sekunden später
AW:
Über mich.
30 Sekunden später
RE:
Über Sie?
15 Minuten später
AW:
Ja, über mich, über uns, Emmi. Mia versteht nicht, warum Sie mir schreiben, wie Sie mir schreiben, was Sie mir schreiben, wie oft Sie mir schreiben und so weiter. Sie versteht nicht, warum Ihnen der Kontakt zu mir so wichtig ist. Sie sagt: Der Emmi fehlt nichts, absolut nichts. Wenn sie Sorgen hat, dann weiß sie, dass sie jederzeit zu mir oder einer anderen Freundin gehen kann. Wenn sie Selbstbestätigung sucht, muss sie nur einmal durch die Fußgängerzone spazieren. Wenn sie flirten will, dann könnte sie auf der Promenierzeile Wartenummern ausgeben und die Typen der Reihe nach aufrufen. Für all das benötigt sie keinen zeitaufwändigen und kräfteraubenden Dauer-Intensiv-E- Mail-Partner. Ja, Mia weiß nicht, wofür Sie mich brauchen, wozu ich gut sein soll, Emmi.
Zwei Minuten später
RE:
Wissen Sie es auch nicht, Leo?
Neun Minuten später
AW:
Doch, ich denke schon, ich nehme Sie beim Wort. Ich hab Mia versucht zu erklären, dass ich für Emmi so eine Art »Außenstelle« bin, ein bisschen Ablenkung vom Familienalltag. Und einer, der sie schätzt und mag, so wie sie ist, ohne dass sie anwesend sein muss. Sie muss nur schreiben, sonst gar nichts. Für Mia reicht diese Erklärung allerdings nicht aus. Sie sagt: Emmi braucht keine Ablenkung. Für eine »Ablenkung« würde sie niemals Aufwand betreiben. Wenn Emmi Aufwand betreibt, dann »will« sie etwas. Und wenn Emmi etwas will, dann will sie nicht nur viel. Wenn Emmi etwas will, dann will sie alles.
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