Fünf Minuten später
AW:
Schlafen Sie mit dem Kopf zum Fenster?
50 Sekunden später
RE:
LEO!!! - Ja, ich schlafe mit dem Kopf schräg zum Fenster.
45 Sekunden später
AW:
Und wenn Sie sich um 180 Grad wenden und mit den Zehen schräg zum Fenster schlafen?
50 Sekunden später
RE:
Das geht nicht, da fehlt mir der kleine Nachttisch mit Leselampe.
Eine Minute später
AW:
Zum Schlafen brauchen Sie doch keine Leselampe.
30 Sekunden später
RE:
Nein, aber zum Lesen.
Eine Minute später
AW:
Dann lesen Sie - und danach drehen Sie sich um und schlafen mit den Zehen schräg zum Fenster ein.
40 Sekunden später
RE:
Wenn ich mich umdrehe, bin ich wieder wach und muss wieder lesen, damit ich einschlafen kann. Und dann fehlt mir das Nachtkästchen mit Leselampe.
30 Sekunden später
AW:
Ich hab's! Stellen Sie es einfach auf die andere Seite vom Bett.
35 Sekunden später
RE:
Geht nicht, das Kabel der Lampe ist zu kurz.
40 Sekunden später
AW:
Schade, ich hätte hier ein Verlängerungskabel.
25 Sekunden später
RE:
Mailen Sie es mir rüber!
45 Sekunden später
AW:
Okay, ich schicke es als Dokument.
50 Sekunden später
RE:
Danke, ich hab's erhalten. Tolles Kabel, ewig lang! Ich stecke es jetzt an.
40 Sekunden später
AW:
Passen Sie nur auf, dass Sie in der Nacht nicht darüber stolpern.
35 Sekunden später
RE:
Ach, ich werde so tief und fest schlafen, dank Ihnen und Ihrem Kabel!
Eine Minute später
AW:
Da kann der Nordwind jetzt blasen, wie er will.
45 Sekunden später
RE:
Leo, ich hab Sie sehr, sehr gern. Sie sind fantastisch gut gegen Nordwind!
30 Sekunden später
AW:
Ich habe Sie auch sehr gern, Emmi. Gute Nacht.
25 Sekunden später
RE:
Gute Nacht. Träumen Sie schön.
Am nächsten Abend
Kein Betreff
Guten Abend, Emmi. Heute haben Sie darauf gewartet, dass ich als Erster schreibe, stimmt's?
Fünf Minuten später
RE:
Leo, ich warte fast immer darauf, dass Sie als Erster schreiben, aber meistens vergeblich. Diesmal habe ich durchgehalten. Geht's Ihnen gut?
Drei Minuten später
AW:
Ja, mir geht es gut. Ich habe gerade mit Mia gesprochen. Und wir haben beschlossen, dass wir Ihnen alles über uns verraten, wenn Sie es überhaupt noch wissen wollen.
Acht Minuten später
RE:
Das weiß ich erst nachher, ob ich es wissen wollte. Jedenfalls haben Sie es so staatstragend angekündigt, dass ich es für gar nicht unwahrscheinlich halte, dass ich nachher weiß, dass ich es eigentlich nicht wissen wollte. Sollte es also eine Liebesgeschichte mit Schwangerschaft, Venedig-Reise und Hochzeitstermin werden, verschonen Sie mich besser damit. Ich hatte heute schon Streit mit einem Kunden. Außerdem kriege ich meine Tage.
Vier Minuten später
AW:
Nein, es ist keine Liebesgeschichte. Es war nie eine. Und mich wundert, dass und in welchem Ausmaß Sie daran gezweifelt haben. Vorher waren Sie sich Ihrer Sache ja ziemlich sicher. »Ihre Sache«, ja, das ist der Punkt. Soll ich ins Detail gehen?
Sechs Minuten später
RE:
Leo, das ist unfair! Ich war mir keiner Sache sicher. Da gab es keine »Sache«. Ich hatte vorher nicht überlegt, was geschehen könnte, wenn Sie meiner Freundin begegnen. Ich war einfach nur neugierig, was sie sagt - und was Sie sagen, Leo. Als Sie es dann sagten, beziehungsweise NICHT sagten, spürte ich erst, wie wenig mir das gefiel, was Sie sagten beziehungsweise NICHT sagten, Sie und Mia. Aber erzählen Sie ruhig weiter. Den wichtigsten Satz haben Sie ohnehin bereits geschrieben. (Ihr erster.) Jetzt kann nicht mehr viel passieren.
Eineinhalb Stunden später
AW:
Mia und ich haben uns an diesem Sonntagnachmittag im Kaffeehaus zum ersten Mal gesehen, und wir wussten sofort, warum wir da sitzen - nicht wegen uns, sondern wegen Ihnen. Wir hatten überhaupt keine Chance, uns näher zu kommen, uns vielleicht sogar ineinander zu verlieben. Wir waren so ungefähr das Gegenteil von füreinander bestimmt. Wir sind uns vom ersten Augenblick an wie Ihre Marionetten vorgekommen, wie Schachfiguren, die Sie, liebe Emmi, gerade gezogen haben. Nur das »Spiel« haben wir nicht verstanden. Und es ist bis heute nicht zu verstehen. Emmi, Sie wissen, dass Mia große Stücke auf Sie hält, dass sie Sie bewundert, ja, und auch beneidet. Sollte das mein Interesse an Ihnen noch steigern? Wenn ja, dann wozu? Soll ich wissen, wie perfekt und idyllisch Sie ein Familienleben führen können? Wozu? Was hat das mit unseren E-Mails zu tun? Hindert es den Nordwind, bei Ihrem Fenster hineinzublasen, so- dass Sie nicht einschlafen können?
Und Mia: Sie kennt sich bei Ihnen überhaupt nicht mehr aus. Sie hat nur eines gespürt, von Anfang an: Ich war tabu für sie. Ich trug eine Tafel um den Hals mit der Aufschrift: »Gehört Emmi! Berühren verboten!« Mia fühlte sich darauf reduziert, mich auszuhorchen. Sie sollte Ihnen detailreich von mir erzählen, sie sollte Ihnen die andere Ebene von mir servieren, die, die Sie nicht kennen, die physische, damit Sie ein rundes Bild von mir haben.
Nun gut, Emmi, Mia und ich waren nicht bereit, unseren uns zugedachten Rollen gerecht zu werden. Wir waren entschlossen, Ihnen Ihr seltsames Spiel zu vermasseln. Ja, wir waren trotzig, wir haben uns zwar nicht ineinander verliebt, aber wir haben miteinander geschlafen. Es hat uns gut getan, es hat Spaß gemacht, wir sind uns nichts schuldig geblieben. Es ging ganz ohne Herzklopfen, ohne große Begierde, ohne tiefe Leidenschaft. Uns beiden reichte, es Ihnen zu Fleiß zu machen. Es war die einfachste und ehrlichste Sache der Welt. Wir waren ehrlich sauer auf Sie! So machten wir uns unser eigenes Spiel im Spiel. Ja, eine Nacht funktionierte das, eine zweite nicht mehr. Man kann auf Dauer nur »miteinander« schlafen, nicht gegen einen gemeinsamen Dritten. Und es war klar, dass sich zwischen Mia und mir nichts aufbauen würde. Aber wir trafen uns weiter gern, es war nett miteinander zu plaudern, ja, wir mochten uns (und mögen uns) und es gefiel uns, Sie dabei auf Distanz zu halten, Emmi. Als kleine Strafe für Ihre Überheblichkeit. Das war die Geschichte. Ich bin gespannt, ob Sie sie verstehen - und wie Sie sie verdauen, meine liebe E-Mail-Partnerin. Es ist unterdessen Nacht geworden. Vollmond, wie ich sehe. Und der Nordwind ist abgeflaut. Sie können den Kopf beim Fester lassen. Gute Nacht!
Zwei Tage später
Kein Betreff
Liebe Emmi, man kommt sich ziemlich jämmerlich vor, wenn man zwei Tage so in der Luft hängt, wie ich in der Luft hänge, weil Sie mich in der Luft hängen lassen. Ich lade Sie deshalb höflich ein, mir zu antworten. Holen Sie mich ruhig unsanft auf den Boden, aber lassen Sie mich nicht in der Luft. Hochachtungsvoll, Ihr Leo.
Am nächsten Tag
Betreff: Verdauung
Hallo Leo, Jonas hat sich beim Volleyball den Arm ausgekegelt. Wir waren zwei Nächte im Spital. Das nur als kleiner Vorgeschmack zur Familienidylle. Jetzt zur Verdauung. Ich habe Ihre E-Mail mehrmals zu verdauen versucht, aber sie ist mir leider immer wieder hochgekommen. Jetzt ist es nur noch ein geschmacksneutraler Brei. Sie fragen, ob Sie von Mia erfahren sollten, wie perfekt und idyllisch ich ein Familienleben fuhren kann? Lieber Leo, da unterliegen Sie und Mia einem großen Irrtum. Mein Familienleben ist gut, aber keineswegs perfekt. »Familienleben« als solches hat mit Perfektion nichts zu tun, sondern mit Ausdauer, Geduld, Nachsicht und ausgekegelten Armen von Kindern. Darf ich hier ausnahmsweise auf meine langjährige Erfahrung verweisen, die ich - tut mir Leid - sowohl Mia als auch Ihnen abspreche? »Familienidylle« ist ein Oxymoron, ein Begriffspaar, das einander ausschließt: entweder Familie oder Idylle. So, und jetzt noch ein paar Worte zu Ihrem »Spiel im Spiel«. Sie sind also mit Mia ins Bett gegangen, weil Sie beide sauer auf mich waren? - So etwas Kindisches habe ich schon lange nicht gehört. Leo, Leo! Das gibt Punkteabzüge.
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